Die Sinnende
Wenn ich tot bin, wird mein Name schweben
Eine kleine Weile ob der Welt.
Wenn ich tot bin, mag es mich noch geben
Irgendwo an Zäunen hinterm Feld.
Doch ich werde bald verlorengehn,
Wie das Wasser fließt aus narbigem Krug,
Wie geheim verwirkte Gabe der Feen
Und ein Wölkchen Rauch am rasenden Zug.
Wenn ich tot bin, sinken Herz und Lende,
Weicht, was mich gehalten und bewegt,
Und allein die offnen, stillen Hände
Sind, ein Fremdes, neben mich gelegt.
Und um meine Stirn wird’s sein
Wie vor Tag, wenn ein Höhlenmund Sterne fängt
Und aus des Lichtgewölbs Schattenstein
Graues Tuch die riesigen Falten hängt.
Wenn ich sterbe, will ich einmal rasten,
Mein Gesicht nach innen drehn
Und es schließen wie den Bilderkasten,
Wenn das Kind zuviel gesehn,
Und dann schlafen gut und dicht,
Da ich zittrig noch hingestellt,
Was ich war: ein wächsernes Licht
Für das Wachen zur zweiten Welt.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Die Sinnende“ von Gertrud Kolmar ist eine leise, tief reflektierende Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod, dem Verlöschen des Ichs und der Frage nach Nachwirkung und Bedeutung. In drei Strophen entwirft das lyrische Ich eine poetische Meditation über das Sterben als stilles, fast zärtliches Verschwinden aus der Welt – getragen von einer Sprache, die gleichzeitig bildhaft und zurückhaltend ist.
Schon in der ersten Strophe wird das Thema der Vergänglichkeit klar gefasst: Der eigene Name wird „eine kleine Weile“ über der Welt schweben, bevor er – wie ein „Wölkchen Rauch“ oder „Wasser aus narbigem Krug“ – verlischt. Die Bilder betonen die Flüchtigkeit von Erinnerung und Leben, aber auch deren geheimnisvollen Zauber: Die Existenz wird zur „verwirkten Gabe der Feen“, etwas Magischem, das still entgleitet. Kolmar verbindet hier zarte Trauer mit einem bewussten Loslassen.
In der zweiten Strophe beschreibt die Sprecherin körperlich und fast nüchtern den Verfall nach dem Tod. Der Körper verliert sein Bewegendes, seine innere Kraft – nur die „offnen, stillen Hände“ bleiben zurück, fremd und unbewegt. Die Bilder sind klar, fast kühl, doch in ihrer Reduziertheit eindrucksvoll. Der Moment des Todes wird mit dem Bild eines Höhleneingangs vor Sonnenaufgang verglichen – etwas Dunkles, das dennoch Licht in sich birgt. Die „riesigen Falten“ des „grauen Tuchs“ vermitteln eine Stimmung der Schwere, aber auch der Verhüllung, des Übergangs.
Die letzte Strophe bringt eine persönliche, fast kindliche Sehnsucht nach Ruhe zum Ausdruck. Der Tod wird nicht als Schrecken, sondern als ersehnte Rast verstanden. Das Bild des „Bilderkastens“, den ein Kind schließt, weil es „zuviel gesehn“ hat, steht für eine Welt, die überfordert und zugleich fasziniert. Der Wunsch, „gut und dicht“ zu schlafen, wird zum Ausdruck einer letzten Hoffnung auf Frieden. Das Ich bezeichnet sich selbst als „wächsernes Licht“ – eine fragile, flackernde Existenz, die diente: „Für das Wachen zur zweiten Welt“. Hier klingt etwas Spirituelles an – der Glaube, dass das Leben Vorbereitung auf etwas Größeres ist.
„Die Sinnende“ ist ein stilles, nachdenkliches Gedicht, das mit großer poetischer Klarheit über Tod, Vergessen und die Hoffnung auf Ruhe spricht. Gertrud Kolmar gelingt es, Vergänglichkeit und Bedeutungslosigkeit nicht als Verzweiflung, sondern als Teil einer tieferen Ordnung zu zeigen – in Bildern von feiner Melancholie und sanftem Ernst.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.