Du sahst die Gedanken kreisend gehn
Wie Bilder um ein Haupt.
Der Luft hast du geglaubt,
Darin die Sterne auferstehn.
Und hattest nicht den Blindenstar
Der altgewordnen Zeit.
Wo für uns noch der Abend war,
Sahst du schon Ewigkeit.
Du sahst die Gedanken kreisend gehn
Wie Bilder um ein Haupt.
Der Luft hast du geglaubt,
Darin die Sterne auferstehn.
Und hattest nicht den Blindenstar
Der altgewordnen Zeit.
Wo für uns noch der Abend war,
Sahst du schon Ewigkeit.
Das Gedicht „Die Hellsichtige“ von Gertrud Kolmar ist ein kurzes, konzentriertes Porträt einer seherischen, geistig überlegenen Gestalt – einer Frau, die jenseits der Alltagswahrnehmung steht und die Welt mit einem besonderen, durchdringenden Blick erfasst. In nur zwei Strophen entfaltet Kolmar das Bild einer Figur, die über Zeit, Erfahrung und Konvention hinausblickt und dafür eine fast überirdische Klarheit besitzt.
Schon in der ersten Strophe wird diese besondere Wahrnehmungskraft betont: Die Hellsichtige sieht „Gedanken kreisend gehn“, als wären sie sichtbar wie Bilder. Sie nimmt das Unsichtbare wahr, vertraut der „Luft“, in der „Sterne auferstehn“. Diese Verbindung von Gedanke und Atmosphäre, von Unsichtbarem und Licht, deutet auf ein geistiges Sehen hin – auf eine Fähigkeit, über die gewöhnliche Sinneserfahrung hinauszublicken. Das Weltbild dieser Figur ist nicht rational, sondern intuitiv, poetisch und durchdrungen von einer fast mystischen Offenheit.
Die zweite Strophe grenzt diese Hellsicht von der „altgewordnen Zeit“ ab – einem Bild für geistige Erstarrung, für das Erblinden an Gewohnheit und Geschichte. Der „Blindenstar“ ist hier nicht nur eine medizinische Metapher, sondern steht für eine innere Blindheit, die viele betrifft, nicht aber die Hellsichtige. Während andere noch im Abend stehen – im Übergang, in der Dämmerung – sieht sie bereits die „Ewigkeit“. Ihre Wahrnehmung reicht über die Zeit hinaus ins Transzendente, in ein metaphysisches Wissen, das nicht an den Ablauf der Welt gebunden ist.
„Die Hellsichtige“ ist somit eine stille Würdigung eines Ausnahmebewusstseins – eines weiblichen, innerlich leuchtenden, klarsichtigen Geistes, der weiter sieht, tiefer versteht und freier denkt als die umgebende Welt. Kolmar gelingt es, mit wenigen Versen eine Figur zu schaffen, die leuchtet – nicht laut, sondern innerlich, nicht kämpferisch, sondern erkennend.
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