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Die Dichterin

Von

Du hältst mich in den Händen ganz und gar.

Mein Herz wie eines kleinen Vogels schlägt
In deiner Faust. Der du dies liest, gib acht;
Denn sieh, du blätterst einen Menschen um.
Doch ist es dir aus Pappe nur gemacht,

Aus Druckpapier und Leim, so bleibt es stumm
Und trifft dich nicht mit seinem großen Blick,
Der aus den schwarzen Zeichen suchend schaut,
Und ist ein Ding und hat ein Dinggeschick.

Und ward verschleiert doch gleich einer Braut,
Und ward geschmückt, daß du es lieben magst,
Und bittet schüchtern, daß du deinen Sinn
Aus Gleichmut und Gewöhnung einmal jagst,

Und bebt und weiß und flüstert vor sich hin:
„Dies wird nicht sein.“ Und nickt dir lächelnd zu.
Wer sollte hoffen, wenn nicht eine Frau?
Ihr ganzes Treiben ist ein einzig: „Du…“

Mit schwarzen Blumen, mit gemalter Brau,
Mit Silberketten, Seiden, blaubestemt.
Sie wußte manches Schönere als Kind
Und hat das schönre andre Wort verlernt. –

Der Mann ist soviel klüger, als wir sind.
In seinem Reden unterhält er sich
Mit Tod und Frühling, Eisenwerk und Zeit;
Ich sage: „Du…“ und immer: „Du und ich.“

Und dieses Buch ist eines Mädchens Kleid,
Das reich und rot sein mag und ärmlich fahl,
Und immer unter liebem Finger nur
Zerknittern dulden will, Befleckung, Mal.

So steh ich, weisend, was mir widerfuhr;
Denn harte Lauge hat es wohl gebleicht,
Doch keine hat es gänzlich ausgespült.
So ruf ich dich. Mein Ruf ist dünn und leicht.

Du hörst, was spricht. Vernimmst du auch, was fühlt?

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Die Dichterin von Gertrud Kolmar

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die Dichterin“ von Gertrud Kolmar ist eine eindringliche Selbstreflexion über das Schreiben, das Lesen und die fragile Verbindung zwischen Autorin und Leser. In kunstvoll komponierten Versen spricht das lyrische Ich aus dem Innersten eines Buches heraus – fast flehend, beinahe beschwörend –, um nicht als bloßer Gegenstand wahrgenommen zu werden, sondern als lebendiger Ausdruck eines empfindenden Menschen.

Schon die erste Strophe markiert diese Nähe und Verletzlichkeit: „Mein Herz wie eines kleinen Vogels schlägt / In deiner Faust.“ Das lyrische Ich macht sich ganz greifbar, fast körperlich erfahrbar – und zugleich absolut ausgeliefert. Die Metapher vom Umblättern eines Menschen verweist auf die Intimität des Leseakts, der, wenn er nur äußerlich bleibt, das Wesentliche verfehlt: die Empfindung, die Persönlichkeit, das Innenleben der Dichterin.

In den folgenden Strophen wird das Buch selbst zur sprechenden Figur, zur „Braut“, zur schüchtern bittenden Gestalt, die um Aufmerksamkeit und echtes Verstehen wirbt. Das Gedicht reflektiert dabei nicht nur den poetischen Ausdruck, sondern auch die weibliche Perspektive auf ihn: Das „Du“ steht im Zentrum – ein Sehnen nach Gegenüber, nach Dialog, nach Liebe. Während dem Mann ein souveräner Umgang mit „Tod und Frühling, Eisenwerk und Zeit“ zugeschrieben wird, beschränkt sich die Sprecherin – scheinbar demütig, in Wahrheit selbstbewusst pointiert – auf die persönliche, emotionale Anrede: „Ich sage: ‚Du…‘ und immer: ‚Du und ich.‘“

Der weibliche Ausdruck, so zeigt das Gedicht, ist sinnlich, verletzlich, zärtlich – aber nicht minder bedeutend. Das Buch wird zum „Mädchens Kleid“, ein Sinnbild für Schönheit, Vergänglichkeit, aber auch für Missbrauch und Spuren, die bleiben. Die Sprache der Dichterin ist nicht blank, nicht rein – sie ist geprägt von Leben, von Erfahrung, von Verletzung: „Denn harte Lauge hat es wohl gebleicht, / Doch keine hat es gänzlich ausgespült.“

Die Schlusszeile – „Du hörst, was spricht. Vernimmst du auch, was fühlt?“ – bringt den zentralen Konflikt auf den Punkt: Verstehen wir das Geschriebene nur als Text – oder hören wir den Menschen dahinter? Kolmars Gedicht fordert ein empathisches, seelenoffenes Lesen – nicht nur ein intellektuelles Erfassen, sondern ein Mitfühlen. Damit ist „Die Dichterin“ nicht nur poetisches Selbstbild, sondern auch ein Appell: an die Kraft der Poesie, das Menschliche im Anderen zu erkennen.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.