Das Herz
Ich ging durch einen Wald,
Da wuchsen viele Herzen.
Sie waren rot in Schmerzen,
Sie waren stolz und grün und kalt.
Sie rieselten und hingen
Von dünnem Ast, Morellenast.
Ich wog die sonneneigne Last
Und ließ sie schüchtern klingeln.
Ich habe eins gepflückt,
Das dunkel schien vor Reife;
Es hat mit grüner Schleife
Und einer Blume mich geschmückt.
Ein Herz ist heißes Klopfen.
Ich ahnte zögernd, daß es bat.
Zuweilen, blutschwarz wie Granat,
Zersprang ein großer Tropfen.
Es lappte gräserwärts
Mit aufgerißnen Schalen.
Da schlug aus welken Qualen
Ein kleines, kleines blaues Herz.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Das Herz“ von Gertrud Kolmar ist ein poetisch vieldeutiges, fast märchenhaftes Sinnbild innerer Erfahrung, das das Herz als Naturfrucht, als fühlendes Organ und als verletzliches Zeichen emotionaler Tiefe inszeniert. In einer scheinbar surrealen Szenerie durchwandert das lyrische Ich einen Wald, in dem „viele Herzen“ wie Früchte wachsen – ein Bild, das gleichzeitig kindlich verspielt und existenziell ernst wirkt.
Die erste Strophe eröffnet mit einer befremdlichen Beobachtung: Herzen wachsen an Bäumen, sie „rieseln“ wie Blätter oder Beeren. Doch sie sind nicht nur leblose Symbole, sondern tragen emotionale Zustände in sich: „rot in Schmerzen“, „stolz und grün und kalt“. Kolmar arbeitet hier mit synästhetischer Bildkraft – Farbe, Gefühl und Zustand gehen ineinander über. Die Natur erscheint als Spiegel der menschlichen Seelenlage, gleichzeitig schön, rätselhaft und verstörend.
In der zweiten und dritten Strophe beschreibt das Ich eine zarte Annäherung: Es wiegt die Last der Herzen, lässt sie „schüchtern klingeln“ – ein Ausdruck tiefer Scheu vor dem, was fühlbar und bedeutungsvoll ist. Schließlich wird ein einzelnes Herz gepflückt – ein Akt der Aneignung, vielleicht der Liebe. Es ist „dunkel vor Reife“, trägt also die Schwere des Gewordenseins, und wird zum Schmuck, zur Gabe, die zugleich ziert und bindet: mit „grüner Schleife und einer Blume“. Das Herz wird zum Zeichen einer neuen Verbindung, doch bleibt auch hier die Stimmung vorsichtig, tastend.
Die vierte Strophe lässt das Herz als lebendiges Wesen erscheinen. Es „klopft“, bittet vielleicht, es zeigt Regung und Verletzlichkeit. Der „Tropfen“, der „blutschwarz wie Granat“ zerspringt, weist auf tiefes, kaum zurückzuhaltendes Gefühl hin – Liebe, Schmerz oder Leidenschaft. Diese bildliche Verdichtung verleiht dem Herz nicht nur Symbolkraft, sondern macht es zum aktiven Subjekt: es reagiert, es leidet, es spricht durch sein „Klopfen“.
In der letzten Strophe erreicht das Gedicht einen melancholischen Höhepunkt: Ein Herz zerbricht, seine Schalen reißen auf, und aus der Vergänglichkeit – den „welken Qualen“ – entsteht etwas Neues, etwas zartes, „ein kleines, kleines blaues Herz“. Das Blau steht in Kolmars Lyrik häufig für Sehnsucht, Innerlichkeit, Transzendenz. So wird am Ende eine fast tröstliche Vision angedeutet: aus Schmerz wächst etwas anderes, etwas Reines und noch nicht Entfremdetes.
„Das Herz“ ist ein tief symbolisches Gedicht über das Fühlen, die Verletzlichkeit und die Schönheit des Empfindens. In einer Mischung aus Natursprache, surrealem Märchen und psychologischer Tiefe entwirft Kolmar ein poetisches Bild des Herzens als Ort von Schmerz, Hoffnung, Reife und Neubeginn.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.