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Die Rede des Dichters vom Berge

Von

Ich bin das Sprachrohr und die Lärmtrompete,
Der brunstgequälte Künder aller Dinge:
Von Mensch- und Muschelkeim bis Nacht und Lethe,
Vom Kabelschacht bis hoch zur Vogelschwinge.
Ich bin ein Greis und bin ein Kind,
Der Zukunft ahnungvoller Seher –
Und doch im Allesrausche blind,
Bin Priester und bin Leierdreher.
Ich stapfe hoch im Gipfelfirn
Und will die Welt in Worte zwingen –
Muß wieder beugen meine Stirn
Und muß im Hof zur Orgel singen.
Ich bin verstählter Mann wie weiches Weib:
Im Gattungsrausch ich zeuge und gebäre,
Und Weibesbrüste sind an meinem Leib,
Aus denen ich mit Blut euch nähre:
So steh ich Redner hier auf diesem Berge
(Mir ist, daß mich jetzt Sonnen selber küßten)
Und sehe dich, du starrig Volk, wie Zwerge:
Ich presse Hirn als Blut aus meinen Brüsten,
Es sickert rot in Euer Häusertal,
Ich locke gell: Nun trinkt! Nun trinkt
Von meinem Blut, von meiner Lust und Qual!
Vom schweren Sang, den ich euch schuf,
Der wie ein „Feuer!-Feuer!-Ruf“
Verworrn durch eure Gassen hinkt.
Doch ob ihr wollet oder nicht:
Ich presse Blut aus meinen Brüsten
Für jedes Weib, für jeden Wicht,
Für alle Winde über Küsten.
Ob ihr dem Sänger Mark und Pfennig spendet,
Ob manchmal hört ein offnes Ohr,
Ob ihr euch ängstlich von dem Narren wendet:
Ich schüttle ächtlich meine Feuerlocken
Und winke Wolken, daß sie um mich hocken
Und schrei euch Weltensingsang vor
Und schlage meine Leier.

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Gedicht: Die Rede des Dichters vom Berge von Gerrit Engelke

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die Rede des Dichters vom Berge“ von Gerrit Engelke thematisiert die ambivalente Rolle des Dichters als Mittler, Kämpfer und Opfer zugleich. Der Dichter präsentiert sich selbst als „Sprachrohr“ und „Lärmtrompete“, als jemand, der die Extreme des Lebens und der Natur – von der „Muschelkeim“ bis zur „Vogelschwinge“ – verkündet und zu einer Stimme verdichtet. Er ist zwischen Gegensätzen gespannt: „Greis“ und „Kind“, „Priester“ und „Leierdreher“, „verstählter Mann“ und „weiches Weib“. Diese Polarität spiegelt die Komplexität des dichterischen Schaffensprozesses wider.

Das Bild vom „Blut aus meinen Brüsten“ ist besonders eindringlich: Der Dichter wird zu einer fast mythischen Figur, die sich selbst aufopfert und ihre innersten Kräfte ausliefert, um „das Volk“ zu nähren. Der Dichter sieht sich über der Masse stehend, vom „Berge“ aus das „starrige Volk“ als „Zwerge“ betrachtend, und dennoch ist er untrennbar mit ihnen verbunden. Der „Sang“ dringt als „Feuer!-Feuer!-Ruf“ hinab in die Stadt, wo er als Warnung und Weckruf wirken soll.

Engelke zeigt den Dichter als Getriebenen, der zwischen Hochmut und Opferbereitschaft schwankt. Ob das „Volk“ ihn würdigt oder verspottet, ob es seine Botschaft annimmt oder ignoriert, der Dichter bleibt in seiner Mission unerbittlich. Die Naturbilder – „Winde über Küsten“, „Wolken“, „Feuerlocken“ – verstärken die archaische und elementare Kraft, die in der dichterischen Berufung liegt.

Das Gedicht wird zu einem Manifest der künstlerischen Selbstbehauptung und der radikalen Hingabe. Engelke zeigt den Dichter als Schöpfer und Leidenden, dessen schöpferisches Werk aus persönlicher Hingabe und existenzieller Not gespeist wird. Es ist ein kraftvolles Bild für den Künstler, der in einer gleichgültigen Welt dennoch nicht verstummt.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.