Logo der Website, Schriftzug "Poesie Oase" mit Palmen umrandet.
, , , , , , , , , , , ,

Mary

Von

Von Irland kam sie mit der Flut,
Sie kam von Tipperary;
Sie hatte warmes, rasches Blut,
Die junge Dirn, die Mary.
Und als sie keck ans Ufer sprang,
Da riefen die Matrosen:
„Die Dirne Mary, Gott sei Dank,
Gleicht einer wilden Rosen!“

Und als sie schritt zum Markte frank,
Sprach ein Gesell mit Grüßen:
„Die Dirne Mary, Gott sei Dank,
Geht auf zwei weißen Füßen.“
Und als sie saß zu Liverpool
Mit schwarz verwegnen Blicken,
Da wollten sich um ihren Stuhl
Die Menschen schier erdrücken.

Von Irland kam sie mit der Flut,
Sie kam von Tipperary:
„Wer kauft Orangen, frisch und gut?“
So rief die Dirn, die Mary.
Und Mohr und Perser und Mulatt
Und Juden wie Getaufte –
Das ganze Volk der Handelsstadt,
Es kam und kaufte, kaufte.

Da fuhr kein Schiff den Fluss hinauf,
Da schwamm auch keins zum Meere:
Saß ein verliebter Schiffsjung drauf
Und dacht: Oh, wenn ich wäre
Erst auf dem Markt zu Liverpool,
Da sitzt von Tipperary,
Mit den Orangen auf dem Stuhl,
Die junge Dirn, die Mary!

Gab es wohl größre Liebe je?
Die Dirn am Mersey-Strande
Hatt tausend Schätze auf der See
Und mehr noch auf dem Lande.
In jeder Zone, wo der Mast
Von einem Fahrzeug krachte,
Schwamm eine Seemannsseele fast,
Die an Orangen dachte. –

Sie aber trotzte wild und keck,
Ob auch die Lippen brannten,
Stets an des Markts geschäft’ger Eck
Den bärtigen Bekannten.
O Leid um all die frischen Küss –
Sie hatte kein Erbarmen,
Sie fluchte, schrie, und ach, sie riss
Sich los aus allen Armen!

Und mit dem Geld, das sie gewann
Für saft’ge, goldne Früchte,
Lief hurtig sie nach Hause dann
Mit zornigem Gesichte.
Sie nahm das Geld und schloss; es ein;
Und erst im Januare
Gen Irland sandte flink und fein
Das blanke sie und bare.

„Das ist für meines Volkes Heil,
Das schenk ich euern Kassen!
Auf, schärft den Säbel und das Beil
Und schürt das alte Hassen!
Wild überwuchern möchte gern
Den Klee von Tipperary
Die Rose England – grüßt den Herrn
O’Connell von der Mary.“

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Mary von Georg Weerth

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Mary“ von Georg Weerth erzählt in lebendigen, fast balladenhaften Bildern die Geschichte einer irischen jungen Frau, die nach Liverpool kommt, um dort Orangen zu verkaufen – und dabei weit mehr ist als nur eine hübsche Marktfrau. Hinter der scheinbar volkstümlichen Darstellung verbirgt sich eine politische Botschaft: Mary wird zur Verkörperung des irischen Widerstands gegen die englische Unterdrückung.

Weerth zeichnet Mary als selbstbewusste, eigenständige Frau mit „warmem, raschem Blut“ und „schwarz verwegnen Blicken“. Sie zieht die Blicke der Männer magisch an, bleibt jedoch unnahbar. Ihre Schönheit und Präsenz verzaubern Matrosen aus aller Welt – doch sie nutzt diese Wirkung nicht für persönliche Zwecke, sondern bleibt konsequent bei ihrer Mission: Geld zu verdienen, das sie später heimlich nach Irland schickt, zur Unterstützung des nationalen Befreiungskampfes.

Die Wiederholung des Motivs der Orangen, die in allen Weltmeeren Sehnsüchte auslösen, verbindet das Lokale mit dem Globalen. Mary steht an der Schnittstelle zwischen Handelswelt und politischem Kampf: Ihre Früchte sind zugleich Symbol für wirtschaftliche Aktivität und Mittel zum Zweck der Rebellion. Weerth spielt mit der romantischen Vorstellung der begehrten Frau, unterwandert sie aber, indem er Mary eine klare politische Haltung und Handlungsfähigkeit zuschreibt.

Besonders kraftvoll ist der Schluss, in dem Mary – trotz ihrer harten Ablehnung der Männer – eine andere, tiefere Leidenschaft zeigt: die für ihr Volk und dessen Freiheit. Ihr Geld ist kein privates Vermögen, sondern eine Waffe im Kampf gegen das britische Empire. Der Verweis auf Daniel O’Connell, den irischen Freiheitskämpfer, verankert das Gedicht historisch und macht Mary zur Figur des Widerstands. Weerths Gedicht verbindet so Volkstümlichkeit mit politischem Engagement und schafft eine Heldin, die sich durch Würde, Stärke und Patriotismus auszeichnet.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.