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Die Industrie

Von

Vor ihm sind tausend Jahre wie der Tag,
Der gestern schied mit feierlichem Prangen;
Denn was der Sturm der Zeiten auch zerbrach –
Ihm ist er machtlos nur vorbeigegangen,
Ihm nur, der Menschheit wundervollem Geist,
Den ewig seine eigne Schöne preist,
Der frei entwandelt jeglicher Vernichtung,
Der leuchtend zieht die eigne Bahn und Richtung!

Er wohnte an des Indus heil’ger Flut,
Er stürmte durch der Griechen grüne Felder,
Er strahlt‘ und blühte in ital’scher Glut
Und sang sein Lied im Dunkel deutscher Wälder.
Er schwebte durch der Meere wüsten Schwall,
Und in des Niagara Donnerfall
Erscholl sein Ruf: „Wie auch die Jahre schreiten:
Ich bin derselbe wie zu alten Zeiten!“

Wohl hat er als das Höchste sich bewährt,
Der Mensch, der kühn die Elemente bändigt,
Der rastlos fort und weiter nur begehrt,
Des Streben nie mit einem Abend endigt,
Dem der Gestirne Wandel so bekannt
Wie seiner Heimat blumenreiches Land,
Dem täglich neue Welten sich erschließen
Zu neuer Tat, zu schönerem Genießen!

Erfindrisch greift er in die Gegenwart:
Da keimt es auf zu schimmernder Gestaltung!
Was ein Jahrhundert ahnungsvoll erharrt,
Es ward, es ist in herrlicher Entfaltung! –
O Toren, die dem Leben ihr entrückt,
Euch stets an alten Wundern nur entzückt:
Die Wunder, so der Gegenwart entsprossen,
Sind groß wie die der Tage, so verflossen! –

Es ging der Mensch durch grüner Wälder Pracht,
Und prüfend wählte er die Riesenfichte;
Er wand das Eisen aus der Berge Schacht
Und trug’s empor zum frohen Sonnenlichte.
Drauf, in der Schiffe flutbespültem Raum,
Fuhr er frohlockend zu dem Küstensaum
Entfernter Völker, transatlant’schem Strande
Die Kunde bringend europä’scher Lande.

Und in der Städte dampf umhülltem Schoß,
Wie rast die Flamme wild aus tausend Essen!
In reinen Formen windet es sich los,
Was ungebildet die Natur besessen. –
O wär’s dem sel’gen Gotte doch erlaubt,
Aufs neu zu heben sein ambrosisch Haupt:
Hephaistos, säh den Dampf die Bahn er wallen,
Dem Menschen staunend, würd er niederfallen!

Nicht braucht’s der Morgenröte Flügel mehr,
Um sich zu betten in den letzten Zonen:
Die eigne Kunst trägt brausend uns einher
Weit durch den großen Garten der Nationen!
Entgegen eilt, was Strom und See getrennt,
Und rings in Millionen Augen brennt
Hell das Bewußtsein, daß die Nacht entschwunden,
Der Mensch den Menschen wieder hat gefunden!

So donnert laut das Ringen unsrer Zeit,
Die Industrie ist Göttin unsren Tagen!
Zwar noch erscheint’s, sie halte starr gefeit
Mit Basiliskenblick der Herzen Schlagen;
Denn düster sitzt sie auf dem finstern Thron,
Und geißelnd treibt zu unerhörter Fron,
Tief auf der Stirn des Unheils grausen Stempel,
Den Armen sie zu ihrem kalten Tempel!

Und Menschen opfernd steht sie wieder da,
Des Irrtums unersättliche Begierde;
Weinend verhüllt sein Haupt der Paria,
Indes der andre strahlt in güldner Zierde:
Doch Tränen fließen jedem großen Krieg,
Es führt die Not nur zu gewisserm Sieg!
Und wer sie schmieden lernte, Schwert und Ketten,
Kann mit dem Schwert aus Ketten sich erretten!

Was er verlieh, des Menschen hehrer Geist,
Nicht Einem – Allen wird es angehören!
Und wie die letzte Kette klirrend reißt
Und wie die letzten Arme sich empören:
Verwandelt steht die dunkle Göttin da –
Beglückt, erfreut ist Alles, was ihr nah!
Der Arbeit Not, die niemand lindern wollte,
Sie war’s, die selbst den Fels beiseite rollte!

Dann ist’s vollbracht! Und in das große Buch,
Das tönend der Geschichte Wunder kündet,
Schreibt man: „Daß jetzt der Mensch sich selbst genug,
Da sich der Mensch am Menschen nur entzündet.“
Frei rauscht der Rede lang gedämpfter Klang,
Frei auf der Erde geht des Menschen Gang!
Und die Natur mit zaubervollem Kusse
Lockt die Lebend’gen fröhlich zum Genusse!

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Die Industrie von Georg Weerth

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die Industrie“ von Georg Weerth ist ein leidenschaftliches, ideologisch aufgeladenes Loblied auf die schöpferische Kraft des menschlichen Geistes, insbesondere in seiner industriellen Ausprägung. In hymnischem Ton zeichnet Weerth die Entwicklung des Menschen vom frühen Kulturträger bis zum technisch versierten Schöpfer der Moderne nach – mit der „Industrie“ als zentraler Göttin der neuen Zeit. Dabei verbindet das Gedicht Fortschrittsoptimismus mit sozialkritischen Tönen und einer visionären Utopie von Freiheit und Gerechtigkeit.

Zunächst beschreibt das lyrische Ich den unvergänglichen, schöpferischen Geist der Menschheit, der sich durch die Epochen zieht – von den Ufern des Indus über das antike Griechenland bis in die deutsche Gegenwart. Dieser Geist wird als überzeitlich, unzerstörbar und stets schöpferisch dargestellt. Die Metaphorik ist pathetisch und feierlich: Der Mensch „schwebt“, „strahlt“, „singt“ – stets in Verbindung mit Naturgewalten, die er zunehmend zu beherrschen lernt. Der Mensch wird als Held gezeichnet, der rastlos „neue Welten“ erschließt und die Natur durch Technik formt.

Zugleich wird die industrielle Welt – mit ihren Maschinen, Dampfkraft und globaler Vernetzung – in fast mythologischer Sprache gefeiert. Der antike Gott Hephaistos, der Schmied, würde staunend niederfallen vor den Leistungen der modernen Industrie. Diese Verbindung zwischen Mythos und Technik betont die Größe des Fortschritts. Aber Weerth beschönigt die Schattenseiten nicht: In den späteren Strophen wird die Industrie auch als „düstere Göttin“ dargestellt, die auf einem finsteren Thron sitzt, mit einem „Basiliskenblick“ das Herz erstarren lässt und die Armen in grausame Fron zwingt.

Doch auch hierin liegt für Weerth eine dialektische Bewegung: Die Notwendigkeit des Leidens führt zu einem historischen Ziel – zur Befreiung der Menschheit durch kollektives Bewusstsein und soziale Revolution. Die Ketten, die durch die industrielle Ausbeutung geschmiedet wurden, können durch dieselben Mittel gesprengt werden. Der Mensch wird am Ende „sich selbst genug“, und der „lange gedämpfte Klang“ der Rede wird endlich frei. Der Schluss des Gedichts ist utopisch: Eine freie, gerechte Welt, in der Mensch und Natur wieder in Einklang leben.

„Die Industrie“ ist somit ein Gedicht, das zwischen hymnischem Fortschrittsglauben, politischer Kritik und revolutionärem Pathos oszilliert. Es steht exemplarisch für die frühe sozialistische Literatur, in der technische Entwicklung nicht abgelehnt, sondern als Mittel zur Befreiung aller verstanden wird – vorausgesetzt, sie wird nicht nur von wenigen beherrscht, sondern allen zugänglich gemacht.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.