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Wolken

Von

Der Toten Geister seid ihr, die zum Flusse,
Zum überladnen Kahn der Wesenlosen
Der Bote führt. Euer Rufen hallt im Tosen
Des Sturms und in des Regens wildem Gusse.

Des Todes Banner wird im Zug getragen.
Des Heers carroccio führt die Wappentiere.
Und graunhaft weiß erglänzen die Paniere,
Die mit dem Saum die Horizonte schlagen.

Es nahen Mönche, die in Händen bergen
Die Totenlichter in den Prozessionen.
Auf Toter Schultern morsche Särge thronen.
Und Tote sitzen aufrecht in den Särgen.

Ertrunkene kommen. Ungeborner Leichen.
Gehenkte blaugeschnürt. Die Hungers starben
Auf Meeres fernen Inseln. Denen Narben
Des schwarzen Todes umkränzen rings die Weichen.

Es kommen Kinder in dem Zug der Toten,
Die eilend fliehn. Gelähmte vorwärts hasten.
Der Blinden Stäbe nach dem Pfade tasten.
Die Schatten folgen schreiend dem stummen Boten.

Wie sich in Windes Maul des Laubes Tanz
Hindreht, wie Eulen auf dem schwarzen Flug,
So wälzt sich schnell der ungeheure Zug,
Rot überstrahlt von großer Fackeln Glanz.

Auf Schädeln trommeln laut die Musikanten,
Und wie die weißen Segel blähn und knattern,
So blähn der Spieler Hemden sich und flattern.
Es fallen ein im Chore die Verbannten.

Das Lied braust machtvoll hin in seiner Qual,
Vor der die Herzen durch die Rippen glimmen.
Da kommt ein Haufe mit verwesten Stimmen,
Draus ragt ein hohes Kreuz zum Himmel fahl.

Der Kruzifixus ward einhergetragen.
Da hob der Sturm sich in der Toten Volke.
Vom Meere scholl und aus dem Schoß der Wolke
Ein nimmer endend grauenvolles Klagen.

Es wurde dunkel in den grauen Lüften.
Es kam der Tod mit ungeheuren Schwingen.
Es wurde Nacht, da noch die Wolken gingen
Dem Orkus zu, den ungeheuren Grüften.

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Gedicht: Wolken von Georg Heym

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Wolken“ von Georg Heym entfaltet eine düstere und visionäre Szenerie, in der die Wolken als Geisterzug der Toten erscheinen. Gleich zu Beginn wird der Himmel mit der Unterwelt verknüpft: Die Wolken werden als die „Geister der Toten“ beschrieben, die zum Fluss der Toten – eine Anspielung auf den Styx – und zum „überladenen Kahn der Wesenlosen“ unterwegs sind. Diese Deutung verleiht dem Wetterphänomen eine unheimliche, mythische Dimension, in der Natur und Jenseits verschmelzen.

Der Todeszug wird als gewaltige Prozession inszeniert: „Banner“, „Paniere“ und „carroccio“ (ein mittelalterlicher Kriegswagen) machen die Wolken zu einem Heer der Verdammten. Die Beschreibung ist von mittelalterlichen Bildern geprägt – Mönche mit „Totenlichtern“, Särge auf „Toter Schultern“, und sogar die Toten selbst „sitzen aufrecht in den Särgen“. Heym verbindet hier das Motiv des Totentanzes mit dem Bild eines endlosen Zugs der Verlorenen.

Die folgenden Strophen intensivieren die Beklemmung: Es erscheinen Ertrunkene, Gehenkte, verhungerte Seefahrer und Kinder – Opfer unterschiedlichster Todesarten, die alle diesem makabren Zug angehören. Besonders eindringlich ist das Bild der „Blinden“ und „Gelähmten“, die verzweifelt versuchen, dem Boten des Todes zu folgen. Die Bewegung des Zuges wird mit dem wilden, chaotischen Treiben der Natur (Wind, Sturm, Eulenflug) parallelisiert und verstärkt so das Bild eines apokalyptischen Finales.

Auch musikalische Elemente fließen ein: Musikanten trommeln auf Schädeln, ihre flatternden Hemden wirken wie „weiße Segel“, und der „Chor der Verbannten“ stimmt ein mächtiges, schmerzerfülltes Lied an. Schließlich steigert sich die Szenerie zur Erscheinung eines „Kruzifixus“, der durch den Sturm getragen wird und das Unheil zusätzlich unterstreicht. Mit dem Auftreten des Todes selbst, der „mit ungeheuren Schwingen“ kommt, kulminiert das Gedicht in einer dunklen, endzeitlichen Vision.

„Wolken“ ist damit ein typisches Beispiel für Heyms expressionistische Dichtung, in der Naturphänomene als Spiegel existenzieller Ängste und apokalyptischer Vorstellungen fungieren. Das Gedicht verbindet Todessehnsucht, Untergangsstimmung und mystische Bilder zu einem eindringlichen Totentanz, der Himmel und Erde gleichermaßen überschattet.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.