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Ophelia

Von

1.

Im Haar ein Nest von jungen Wasserratten,
Und die beringten Hände auf der Flut
Wie Flossen, also treibt sie durch den Schatten
Des großen Urwalds, der im Wasser ruht.

Die letzte Sonne, die im Dunkel irrt,
Versenkt sich tief in ihres Hirnes Schrein.
Warum sie starb? Warum sie so allein
Im Wasser treibt, das Farn und Kraut verwirrt?

Im dichten Röhricht steht der Wind. Er scheucht
Wie eine Hand die Fledermäuse auf.
Mit dunklem Fittich, von dem Wasser feucht
Stehn sie wie Rauch im dunklen Wasserlauf,

Wie Nachtgewölk. Ein langer, weißer Aal
Schlüpft über ihre Brust. Ein Glühwurm scheint
Auf ihrer Stirn. Und eine Weide weint
Das Laub auf sie und ihre stumme Qual.

2.

Korn. Saaten. Und des Mittags roter Schweiß.
Der Felder gelbe Winde schlafen still.
Sie kommt, ein Vogel, der entschlafen will.
Der Schwäne Fittich überdacht sie weiß.

Die blauen Lider schatten sanft herab.
Und bei der Sensen blanken Melodien
Träumt sie von eines Kusses Karmoisin
Den ewigen Traum in ihrem ewigen Grab.

Vorbei, vorbei. Wo an das Ufer dröhnt
Der Schall der Städte. Wo durch Dämme zwingt
Der weiße Strom. Der Widerhall erklingt
Mit weitem Echo. Wo herunter tönt

Hall voller Straßen. Glocken und Geläut.
Maschinenkreischen. Kampf. Wo westlich droht
In blinde Scheiben dumpfes Abendrot,
In dem ein Kran mit Riesenarmen dräut,

Mit schwarzer Stirn, ein mächtiger Tyrann,
Ein Moloch, drum die schwarzen Knechte knien.
Last schwerer Brücken, die darüber ziehn
Wie Ketten auf dem Strom, und harter Bann.

Unsichtbar schwimmt sie in der Flut Geleit.
Doch wo sie treibt, jagt weit den Menschenschwarm
Mit großem Fittich auf ein dunkler Harm,
Der schattet über beide Ufer breit.

Vorbei, vorbei. Da sich dem Dunkel weiht
Der westlich hohe Tag des Sommers spät,
Wo in dem Dunkelgrün der Wiesen steht
Des fernen Abends zarte Müdigkeit.

Der Strom trägt weit sie fort, die untertaucht,
Durch manchen Winters trauervollen Port.
Die Zeit hinab. Durch Ewigkeiten fort,
Davon der Horizont wie Feuer raucht.

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Gedicht: Ophelia von Georg Heym

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht *Ophelia* von Georg Heym greift das bekannte Shakespeare-Motiv der im Wasser treibenden Ophelia auf, erweitert es jedoch zu einer düsteren, expressionistischen Vision. Die Natur und die Zivilisation verschmelzen zu einer bedrohlichen Kulisse, die den Tod der Ophelia nicht nur als persönliches Schicksal, sondern als Sinnbild existenzieller Verlorenheit inszeniert.

Im ersten Abschnitt wird Ophelia als Teil der verwilderten, morbiden Natur dargestellt. Ihr Haar wird zum Nest für Wasserratten, ein Aal gleitet über ihre Brust, und die Weide „weint“ ihr Laub auf sie herab – diese grotesken Bilder verdeutlichen die völlige Auflösung der Grenze zwischen Mensch und Umwelt. Ophelia wird eins mit dem Wasser und dem Verfall, während die letzte Sonne in ihrem Geist versinkt – ein Hinweis auf ihre geistige Zerrüttung vor dem Tod.

Der zweite Abschnitt konfrontiert Ophelias Körper mit der modernen Welt. Ihr Weg durch den Fluss führt sie vorbei an Feldern, Städten und schließlich der Industrie – Maschinenlärm, Brücken, Kräne und dunkle Tyrannenbilder erzeugen eine bedrohliche Szenerie. Doch ihre Präsenz bleibt unsichtbar, nur als diffuses Unbehagen wirkt ihr treibender Körper auf die Menschen. Die Industriewelt erscheint als kalte, unmenschliche Macht, während Ophelia ein Sinnbild vergangener Sensibilität und Tragik ist.

Das Gedicht endet mit dem Bild von Ophelia, die durch die Zeiten treibt – „durch Ewigkeiten fort“. Ihr Tod ist nicht nur ein individueller, sondern ein ewiger, der sich in der Natur und Geschichte verliert. Heyms *Ophelia* verbindet somit Naturmystik, gesellschaftliche Kritik und eine düstere Todesvision zu einem eindringlichen, expressionistischen Bild der Vergänglichkeit.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.