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Die Heimat der Toten

Von

1.

Der Wintermorgen dämmert spät herauf.
Sein gelber Turban hebt sich auf den Rand
Durch dünne Pappeln, die im schnellen Lauf
Vor seinem Haupte ziehn ein schwarzes Band.

Das Rohr der Seen saust. Der Winde Pfad
Durchwühlt es mit dem ersten Lichte grell.
Der Nordsturm steht im Feld wie ein Soldat
Und wirbelt laut auf seinem Trommelfell.

Ein Knochenarm schwingt eine Glocke laut.
Die Straße kommt der Tod, der Schifferknecht.
Um seine gelben Pferdezähne staut
Des weißen Bartes spärliches Geflecht.

Ein altes totes Weib mit starkem Bauch,
Das einen kleinen Kinderleichnam trägt.
Er zieht die Brust wie einen Gummischlauch,
Die ohne Milch und welk herunterschlägt.

Ein paar Geköpfte, die vom kalten Stein
Im Dunkel er aus ihren Ketten las.
Den Kopf im Arm. Im Eis den Morgenschein,
Das ihren Hals befror mit rotem Glas.

Durch klaren Morgen und den Wintertag
Mit seiner Bläue, wo wie Rosenduft
Von gelben Rosen, über Feld und Hag
Die Sonne wiegt in träumerischer Luft.

Ein alter Schädel flattert aus der Gruft,
Mit einem feuerroten Haar beschwingt,
Das um sein Kinn, hoch oben in der Luft,
Der Wind zu feuriger Krawatte schlingt.

Die leere Grube lacht aus schwarzem Mund
Sie freundlich an. Die Leichen fallen um
Und stürzen in den aufgerissenen Schlund.
Des Grabes Platte überschließt sie stumm.

2.

Die Lider übereist, das Ohr verstopft
Vom Staub der Jahre, ruht ihr eure Zeit.
Nur manchmal ruft euch noch ein Traum, der klopft
Von fern an eure tote Ewigkeit,

In einem Himmel, der wie Schnee so fahl
Und von dem Zug der Jahre schon versteint.
Auf eurem eingefallenen Totenmal
Wird eine Lilie stehn, die euch beweint.

Der Märznacht Sturm wird euren Schlaf betaun.
Der große Mond, der in dem Osten dampft,
Wird tief in eure leeren Augen schaun,
Darin ein großer, weißer Wurm sich krampft.

So schlaft ihr fort, vom Flötenspiel gewiegt
Der Einsamkeit, im späten Weltentod,
Da über euch ein großer Vogel fliegt
Mit schwarzem Flug ins gelbe Abendrot.

Des goldenen Tages Brücke spannt sich weit
Und tönt wie einer großen Leier Ton.
Die Pappeln rauschen mit dem Trauerkleid
Die Straße fort, wo weit der Abend schon

Mit Silberbächen überschwemmt das Land,
Und grenzenlos die ferne Weite brennt.
Die Dämmerung steigt wie ein dunkler Brand
Den Zug entlang, der in die Himmel rennt.

Ein Totenhain, und Lorbeer, Baum an Baum,
Wie grüne Flammen, die der Wind bewegt.
Sie flackern riesig in den Himmelsraum,
Wo schon ein blasser Stern die Flügel schlägt.

Wie große Gänse auf dem Säulenschaft
Sitzt der Vampire Volk und friert im Frost.
Sie prüfen ihrer Eisenkrallen Kraft
Und ihre Schnäbel an der Kreuze Rost.

Der Efeu grüßt die Toten an dem Tor,
Die bunten Kränze winken von der Wand.
Der Tod schließt auf. Sie treten schüchtern vor,
Verlegen drehend die Köpfe in der Hand.

Der Tod tritt an ein Grab und bläst hinein.
Da fliegen Schädel aus der Erde Schoß
Wie große Wolken aus dem Leichenschrein,
Die Bärte tragen rund von grünem Moos.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Die Heimat der Toten von Georg Heym

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die Heimat der Toten“ von Georg Heym entfaltet eine düstere, groteske Vision des Totenreichs und verwebt Naturdarstellungen mit morbiden, teils makabren Bildern. In der ersten Strophe herrscht eine winterliche, lebensfeindliche Atmosphäre: Der Morgen dämmert nur zögerlich, der Nordsturm erscheint als Soldat, der das Feld durchkämmt. Früh wird der Leser mit einer Welt konfrontiert, in der der Tod selbst zur gestalteten Figur wird, der „Schifferknecht“ mit „gelben Pferdezähnen“. Die Bildsprache ist durchdrungen von Verfall, Kälte und Erstarrung.

Heym präsentiert das Totenreich als Ort, der von ruhelosen Gestalten bevölkert ist: geköpfte Tote, ein altes Weib mit einem toten Kind, Leichen, die aus Gräbern steigen und wieder in den „Schlund“ der Erde stürzen. Trotz dieser Trostlosigkeit überzieht die Natur – der Wintermorgen, der Sonnenaufgang – das Szenario mit einer eigenartig träumerischen Melancholie. Diese Mischung aus Kälte, Tod und poetischer Landschaft erzeugt eine verstörend schöne, surreale Stimmung.

Im zweiten Teil vertieft sich das Bild der ewigen Ruhe und der Zeitlosigkeit. Die Toten liegen „vom Staub der Jahre“ bedeckt, während nur gelegentlich ein Traum sie aus der „toten Ewigkeit“ zu rufen scheint. Naturgewalten wie der Märznachtsturm oder der Mond, der auf die Verstorbenen blickt, verstärken die Kälte und die Stille dieser Welt. Gleichzeitig werden die Bilder zunehmend symbolischer: der Vogel im Abendrot, die „goldene Brücke“ des Tages und der Dämmerung, die wie ein Brand das Land überzieht.

Besonders auffällig ist Heyms Verbindung von Todesmotiven mit fast mythologischen, traumhaften Elementen: Vampire, die frierend auf Grabkreuzen sitzen, der Tod, der Schädel aus den Gräbern bläst, und der „Totenhain“ mit „Lorbeer“ erinnern an eine makabre Märchenwelt. Die Personifikation des Todes als eine aktive Kraft, die das Totengericht leitet, verleiht dem Gedicht einen archaisch-ritualhaften Charakter.

Insgesamt zeichnet Heym in „Die Heimat der Toten“ ein beklemmendes Panorama eines Totenreichs, das sowohl von Verfall als auch von einer eigentümlichen Lebendigkeit geprägt ist. Die Sprache oszilliert zwischen Realismus und phantastischem Horror, wobei sich hinter der morbiden Bildwelt auch eine existenzielle Auseinandersetzung mit Vergänglichkeit und der Macht des Todes verbirgt.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.