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Ich möchte hingehn wie das Abendrot

Von

Ich möchte hingehn wie das Abendrot
Und wie der Tag mit seinen letzten Gluten –
O leichter, sanfter, ungefühlter Tod –
Mich in den Schoß des Ewigen verbluten!

Ich möchte hingehn wie der heitre Stern
Im vollsten Glanz, in ungeschwächtem Blinken,
So still und schmerzlos möchte gern
Ich in des Himmels blaue Tiefe sinken!

Ich möchte hingehn wie der Blume Duft,
Die freudig sich dem schönen Kelch entringet,
Und auf dem Fittig blütenschwangrer Luft
Als Weihrauch auf des Herrn Altar sich schwinget.

Ich möchte hingehn wie der Tau im Tal,
Wenn durstig ihm des Morgens Feuer winken –
O, wollte Gott, wie ihn der Sonnenstrahl,
Auch meine lebensmüde Seele trinken!

Ich möchte hingehn wie der bange Ton,
Der aus den Saiten einer Harfe dringet,
Und, kaum dem irdischen Metall entflohn,
Ein Wohllaut in des Schöpfers Brust verklinget.

Du wirst nicht hingehn wie das Abendrot,
Du wirst nicht hingehn wie der Stern versinken,
Du stirbst nicht einer Blume leichten Tod,
Kein Morgenstrahl wird deine Seele trinken!

Wohl wirst du hingehn, hingehn ohne Spur,
Doch wird das Elend deine Kraft erst schwächen,
Sanft stirbt es einzig sich in der Natur,
Das arme Menschenherz muss stückweis brechen!

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Ich möchte hingehn wie das Abendrot von Georg Herwegh

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Ich möchte hingehn wie das Abendrot“ von Georg Herwegh thematisiert den Wunsch nach einem sanften, natürlichen Tod und die resignative Erkenntnis, dass dem Menschen ein solcher friedlicher Abschied oft verwehrt bleibt. In den ersten fünf Strophen bringt das lyrische Ich seinen sehnsuchtsvollen Wunsch nach einem harmonischen Vergehen zum Ausdruck. Es zieht Vergleiche zur Natur – zum „Abendrot“, zum „heiteren Stern“, zum „Duft der Blume“, zum „Tau im Tal“ und zum „bangen Ton“ der Harfe. All diese Bilder stehen für einen stillen, unmerklichen und schmerzlosen Übergang ins Jenseits.

Die Natur erscheint dabei als Vorbild für ein sanftes Verlöschen. Der Abend, der Stern, die Blume, der Tau und der Klang verschwinden leise und schön, fast unbemerkt. In dieser idealisierten Vorstellung spiegelt sich ein tiefes Bedürfnis nach Harmonie und Erlösung. Besonders eindrucksvoll ist die Metapher des Taues, der vom „Sonnenstrahl“ getrunken wird – eine zarte Verschmelzung mit dem Göttlichen. Ebenso klingt in der Harfen-Metapher die Idee an, dass der Tod das Ende der irdischen Mühsal sein und in der „Brust des Schöpfers“ verklingen könnte.

In der sechsten Strophe erfolgt ein starker Bruch: Das lyrische Ich erkennt, dass dieser sanfte Tod der Natur dem Menschen meist verwehrt bleibt. Der Tod des Menschen ist nicht lautlos oder schön, sondern geprägt von Leid und Zerstörung. Das Bild der Natur als sanfter Tod wird nun der Realität der menschlichen Existenz gegenübergestellt, in der „Elend“ die Kraft „erst schwächen“ muss, bevor das Herz „stückweis bricht“. Diese letzte Zeile bringt das bittere Fazit des Gedichts auf den Punkt und stellt eine nüchterne, fast resignative Diagnose über das menschliche Leben und Sterben aus.

Herwegh schafft mit diesem Gedicht ein melancholisches, nachdenkliches Werk über den Kontrast zwischen der vollkommenen Natur und der harten menschlichen Wirklichkeit. Der Wunsch nach einem friedlichen Tod in Harmonie mit der Natur bleibt eine unerfüllte Sehnsucht, die in der letzten Strophe durch scharfe, fast trostlose Bilder gebrochen wird.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.