Abends
Du siehst den Himmel sich mit Purpur schmücken,
Doch alsbald, wie herauf die Sterne steigen,
Sich hinterm Berg hinab den Purpur neigen,
Denn er verschmäht’s, mit ihnen sich zu sticken.
Soll ich das Herz mit seinem Haupte flicken? –
Wenn abends stolz sich die Gedanken zeigen,
Dann wird das Herz, krank, müd und todwund, schweigen,
Sein flammend Mal entziehn den Zweifelblicken.
Nacht ist’s, ob tausend Stern am Himmel stehen,
nacht, trotz des Hauptes blitzenden Gedanken,
Tag, wenn vorm Frühlicht beide erst vergehen,
Wenn in des Morgens Purpur sie ertranken,
Das Herz lässt seine roten Fahnen wehen
Und in ihm unter die Gedanken sanken.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Abends“ von Georg Herwegh beschreibt die innere Zerrissenheit des lyrischen Ichs, das zwischen den stolzen „Gedanken“ des Tages und der Erschöpfung der Nacht hin- und hergerissen ist. Zu Beginn wird der Himmel mit „Purpur schmücken“ beschrieben, was auf den Farbenreichtum des Sonnenuntergangs hinweist. Doch der Purpur verschwindet, sobald die Sterne auftauchen und sich „hinterm Berg hinab neigen“. Dies könnte als Metapher für die Vergänglichkeit von Schönheit und Glück sowie die unvermeidliche Dunkelheit und das Vergehen des Tages verstanden werden. Der Purpur, der die Sonne darstellt, „verschmäht es, mit den Sternen sich zu sticken“, was auf die Entfremdung und das langsame Ende des Tages hinweist.
In der zweiten Strophe folgt die Reflexion des lyrischen Ichs. Es stellt sich die Frage, ob das „Herz mit seinem Haupte geflickt“ werden soll, was die innere Zerrissenheit und die Notwendigkeit einer Heilung andeutet. Der Abend, der stolz und von „Gedanken“ erfüllt ist, führt zu einem Zustand der Erschöpfung. Das Herz wird als „krank, müd und todwund“ beschrieben und zieht sich von den „Zweifelblicken“ zurück, was für die Notwendigkeit steht, sich von äußeren Einflüssen und inneren Konflikten zu distanzieren, um Ruhe zu finden. Das „flammend Mal“ des Herzens – ein Bild für das leidenschaftliche oder schmerzvolle Innere – zieht sich zurück, um sich vor dem Zweifeln und der äußeren Welt zu schützen.
Die dritte Strophe bringt die Nacht als Gegenpol zum Tag ins Spiel. Der Gedichtsprecher reflektiert die Differenz zwischen den „tausend Sternen“ und dem „Haupt“, das trotz der Blitzgedanken des Tages in der Nacht zur Ruhe kommt. Die Nacht bleibt eine Zeit der inneren Einkehr, auch wenn die Sterne am Himmel stehen. Die Gedanken, die während des Tages in voller Pracht und Leidenschaft blitzen, „vergehen“ im Frühlicht und „ertrinken“ im purpurnen Schein des Morgens. Die Nacht bringt eine Ruhe, die den „roten Fahnen“ des Herzens erlaubt, „zu wehen“, was für die Emotionen und die innere Entfaltung des lyrischen Ichs steht, das sich der Dunkelheit und der Stille hingibt.
Insgesamt behandelt das Gedicht die Gegensätze von Tag und Nacht, von Gedanken und Gefühlen, von Erhebung und Erschöpfung. Der „Purpur“ des Himmels als Symbol für den Tag und das flimmernde Licht der Sterne als Symbol für den inneren Konflikt des Ichs verdeutlichen den Kampf zwischen äußeren Eindrücken und der inneren Notwendigkeit nach Ruhe und Einkehr. Die Nacht als heilende Ruhephase wird als Antwort auf den inneren Konflikt des lyrischen Ichs dargestellt, das nach Frieden sucht und seine „roten Fahnen“ in der Stille der Dunkelheit wehen lässt.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.