Die Küsse
Als sich aus Eigennutz Elisse
Dem muntern Coridon ergab,
Nahm sie für einen ihrer Küsse
Ihm anfangs dreißig Schafe ab.
Am andern Tag erschien die Stunde,
Daß er den Tausch viel besser traf.
Sein Mund gewann von ihrem Munde
Schon dreißig Küsse für ein Schaf.
Der dritte Tag war zu beneiden:
Da gab die milde Schäferin
Um einen neuen Kuß mit Freuden
Ihm alle Schafe wieder hin.
Allein am vierten ging’s betrübter,
Indem sie Herd und Hund verhieß
Für einen Kuß, den ihr Geliebter
Umsonst an Doris überließ.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Die Küsse“ von Friedrich von Hagedorn ist eine humorvolle und zugleich lehrreiche Fabel, die die Themen Eigennutz, Tauschhandel und die Entwicklung von Beziehungen auf spielerische Weise behandelt. Zu Beginn beschreibt der Dichter die Begegnung zwischen Elisse und Coridon, in der Elisse aus Eigennutz einem „muntern Coridon“ ihre Zuneigung schenkt. Der Tausch ist klar: Für einen Kuss gibt sie ihm dreißig Schafe. Dies zeigt bereits zu Beginn den Gegensatz zwischen den materiellen Werten (die Schafe) und den emotionalen (die Küsse), und deutet auf eine transaktionsorientierte Beziehung hin.
Am nächsten Tag erfahren wir von einem Wechsel der Verhältnisse: Coridon erzielt nun „dreißig Küsse für ein Schaf“, was zeigt, dass er den Vorteil des Tausches für sich entdeckt hat. Dieser Schritt verdeutlicht, wie sich das Kräfteverhältnis in der Beziehung verändert hat: Zuerst war Elisse diejenige, die den Handel dominierte, doch nun scheint Coridon die Oberhand zu gewinnen, indem er eine größere Anzahl von Kussen im Austausch für weniger besitzt. Dies könnte als ironische Bemerkung über die Gleichwertigkeit von Gefühlen und materiellen Gütern verstanden werden, da ein Kuss plötzlich als wertvoller erscheint als ein Schaf.
Der dritte Tag bringt jedoch eine überraschende Wendung: Elisse, nun als „milde Schäferin“ bezeichnet, gibt „alle Schafe“ zurück, um für einen Kuss noch mehr Zuneigung zu gewinnen. In dieser Phase wird die Beziehung weniger von materiellem Tausch, sondern von echter, freiwilliger Zuneigung geprägt. Die großzügige Geste Elisses zeigt eine Entwicklung hin zu einer tieferen und weniger egozentrischen Form der Liebe.
Die letzte Wendung des Gedichts ist jedoch traurig und enttäuschend: Am vierten Tag gibt Elisse ihr „Herd und Hund“ für einen Kuss, den Coridon ohne Gegenleistung an Doris gibt. Diese letzte Szene spiegelt die Enttäuschung wider, die entsteht, wenn die Liebe ausgenutzt oder nicht erwidert wird. Der Verlust von Schafen und materiellen Gütern wird nun durch den Verlust von emotionaler Nähe und Vertrauen ersetzt, was das Gedicht von einer humorvollen Erzählung zu einer kritischen Reflexion über die Unbeständigkeit von Beziehungen und den Eigeninteressen der Beteiligten macht.
Hagedorn kombiniert hier auf geschickte Weise humorvolle Tauschgeschäfte mit einer tiefere moralischen Botschaft über die Entwertung von Liebe, wenn sie von Egoismus und Eigeninteresse geprägt ist. Die Entwicklung der Beziehung zwischen Elisse und Coridon lässt sich als Metapher für den Übergang von oberflächlichem, eigennützigen Verhalten zu einer echten, selbstlosen Liebe deuten, die jedoch, wenn sie nicht auf Gegenseitigkeit beruht, schnell in Enttäuschung und Verzweiflung umschlagen kann.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.