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Lied der Liebe

Von

1. Fassung

Engelfreuden ahndend wallen
Wir hinaus auf Gottes Flur,
Wo die Jubel widerhallen
In dem Tempel der Natur;
Heute soll kein Auge trübe,
Sorge nicht hienieden sein,
Jedes Wesen soll der Liebe
Wonniglich, wie wir, sich freun.

Singt den Jubel, Schwestern! Brüder!
Festgeschlungen! Hand in Hand!
Singt das heiligste der Lieder
Von dem hohen Wesenband!
Steigt hinauf am Rebenhügel,
Blickt hinab ins Schattental!
Überall der Liebe Flügel,
Wonnerauschend überall!

Liebe lehrt das Lüftchen kosen
Mit den Blumen auf der Au,
Lockt zu jungen Frühlingsrosen
Aus der Wolke Morgentau,
Liebe ziehet Well an Welle
Freundlichmurmelnd näher hin,
Leitet aus der Kluft die Quelle
Sanft hinab ins Wiesengrün.

Berge knüpft mit ehrner Kette
Liebe an das Firmament,
Donner ruft sie an die Stätte,
Wo der Sand die Pflanze brennt,
Um die hehre Sonne leitet
Sie die treuen Sterne her,
Folgsam ihrem Winke gleitet
Jeder Strom ins weite Meer.

Liebe wallt in Wüsteneien,
Höhnt des Dursts im dürren Sand,
Sieget, wo Tyrannen dräuen,
Steigt hinab ins Totenland;
Liebe trümmert Felsen nieder,
Zaubert Paradiese hin,
Schaffet Erd und Himmel wieder
Göttlich, wie im Anbeginn.

Liebe schwingt den Seraphsflügel,
Wo der Gott der Götter wohnt,
Lohnt den Schweiß am Felsenhügel,
Wann der Richter einst belohnt,
Wann die Königsstühle trümmern,
Hin ist jede Scheidewand,
Adeltaten heller schimmern,
Reiner, denn der Krone Tand.

Mag uns jetzt die Stunde schlagen,
Jetzt der letzte Othem wehn!
Brüder! drüben wird es tagen,
Schwestern! dort ist Wiedersehn;
Jauchzt dem heiligsten der Triebe,
Die der Gott der Götter gab,
Brüder! Schwestern! jauchzt der Liebe!
Sie besieget Zeit und Grab!

2. Fassung

Engelfreuden ahndend, wallen
Wir hinaus auf Gottes Flur,
Daß von Jubel widerhallen
Höhn und Tiefen der Natur.
Heute soll kein Auge trübe,
Sorge nicht hienieden sein,
Jedes Wesen soll der Liebe
Frei und froh, wie wir, sich weihn!

Singt den Jubel, Schwestern, Brüder,
Fest geschlungen, Hand in Hand!
Hand in Hand das Lied der Lieder,
Selig an der Liebe Band!
Steigt hinauf am Rebenhügel,
Blickt hinab ins Schattental!
Überall der Liebe Flügel,
Hold und herrlich überall!

Liebe lehrt das Lüftchen kosen
Mit den Blumen auf der Au,
Lockt zu jungen Frühlingsrosen
Aus der Wolke Morgentau,
Liebe ziehet Well an Welle
Freundlich murmelnd näher hin,
Leitet aus der Kluft die Quelle
Sanft hinab ins Wiesengrün.

Berge knüpft mit ehrner Kette
Liebe an das Firmament,
Donner ruft sie an die Stätte,
Wo der Sand die Pflanze brennt.
Um die hehre Sonne leitet
Sie die treuen Sterne her,
Folgsam ihrem Winke gleitet
Jeder Strom ins weite Meer.

Liebe wallt durch Ozeane,
Durch der dürren Wüste Sand,
Blutet an der Schlachtenfahne,
Steigt hinab ins Totenland!
Liebe trümmert Felsen nieder,
Zaubert Paradiese hin,
Schaffet Erd und Himmel wieder –
Göttlich, wie im Anbeginn.

Liebe schwingt den Seraphsflügel,
Wo der Gott der Götter thront,
Lohnt die Trän am Felsenhügel,
Wann der Richter einst belohnt,
Wann die Königsstühle trümmern,
Hin ist jede Scheidewand,
Biedre Herzen heller schimmern,
Reiner, denn der Krone Tand.

Laßt die Scheidestunde schlagen,
Laßt des Würgers Flügel wehn!
Brüder, drüben wird es tagen!
Schwestern, dort ist Wiedersehn!
Jauchzt dem heiligsten der Triebe,
Den der Gott der Götter gab,
Brüder, Schwestern, jauchzt der Liebe,
Sie besieget Zeit und Grab!

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Gedicht: Lied der Liebe von Friedrich Hölderlin

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Lied der Liebe“ von Friedrich Hölderlin ist eine Hymne auf die allumfassende, göttliche Kraft der Liebe, die Natur, Mensch und Kosmos durchdringt und verbindet. In beiden Fassungen feiert das lyrische Ich die Liebe als universelle Energie, die alles Leben ordnet, belebt und mit Sinn erfüllt.

In den ersten Strophen wird die Liebe als Anlass für ein gemeinsames Fest dargestellt, das in der freien Natur stattfindet. Die Menschen treten als Gemeinschaft auf, sie „singen Hand in Hand“ und verbinden sich so zu einem feierlichen Bund. Die Natur wird als ein von der Liebe erfüllter „Tempel“ beschrieben, in dem jedes Wesen Teil dieser höheren Harmonie ist. Besonders deutlich zeigt sich hier Hölderlins pantheistische Grundhaltung, die die Natur als Spiegel des Göttlichen begreift.

Im mittleren Teil des Gedichts wird die Liebe als ordnende und schöpferische Kraft dargestellt, die Naturerscheinungen wie das Spiel von Wind und Blume, das Fließen der Quellen und Flüsse sowie kosmische Bewegungen der Gestirne bestimmt. Die Liebe überwindet Grenzen und Gegensätze: Sie wirkt in Wüsten, auf Schlachtfeldern und selbst im Totenreich. Diese Bilder verleihen der Liebe etwas Überzeitliches und Allgegenwärtiges, das selbst den Tod transzendiert.

In den abschließenden Strophen wird die Liebe ins Religiöse und Eschatologische überhöht. Die Liebe schwingt sich auf „Seraphsflügeln“ zu Gott und wird zur Kraft, die im Jenseits belohnt wird und die „Scheidewände“ von Leben und Tod aufhebt. So wird die Liebe als Brücke zur Unsterblichkeit gefeiert, die „Zeit und Grab“ überwindet. Die Aufforderung zum „Jauchzen“ ist der Aufruf, sich dieser göttlichen Ordnung freudig und vertrauensvoll hinzugeben.

Beide Fassungen unterscheiden sich in Nuancen der Formulierungen, aber die Grundbotschaft bleibt gleich: Hölderlin feiert die Liebe als das höchste Prinzip, das sowohl das irdische Leben verschönert als auch den Weg zur Transzendenz öffnet. Der Chorcharakter des Gedichts und die hymnische Sprache verstärken den Eindruck eines festlichen Bekenntnisses zu einer universellen Kraft, die über alle Schranken hinweg Gemeinschaft und Erfüllung stiftet.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.