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Lebenslauf

Von

Größers wolltest auch du, aber die Liebe zwingt
All uns nieder, das Leid beuget gewaltiger,
Doch es kehret umsonst nicht
Unser Bogen, woher er kommt.

Aufwärts oder hinab! herrschet in heil’ger Nacht,
Wo die stumme Natur werdende Tage sinnt,
Herrscht im schiefesten Orkus
Nicht ein Grades, ein Recht noch auch?

Dies erfuhr ich. Denn nie, sterblichen Meistern gleich,
Habt ihr Himmlischen, ihr Alleserhaltenden,
Daß ich wüßte, mit Vorsicht
Mich des ebenen Pfads geführt.

Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen,
Daß er, kräftig genährt, danken für Alles lern‘,
Und verstehe die Freiheit,
Aufzubrechen, wohin er will.

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Gedicht: Lebenslauf von Friedrich Hölderlin

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Lebenslauf“ von Friedrich Hölderlin reflektiert den Lebensweg des Menschen als ein Spannungsfeld zwischen Streben, Scheitern und göttlicher Ordnung. Im Zentrum steht die Erkenntnis, dass sowohl das Leiden als auch die Liebe mächtige Kräfte sind, die den Menschen formen und lenken. Der Lebensweg wird dabei als ein von höheren Mächten bestimmter Bogen dargestellt, der sich zwar beugt, aber „umsonst nicht“ zurückkehrt – ein Bild für das unausweichliche Lernen und Reifen im Leben.

Die zweite Strophe weitet den Blick auf die Natur und das kosmische Prinzip: Ob „aufwärts oder hinab“, ob im „heil’gen Nacht“-Zustand der Natur oder im „Orkus“, dem Unterweltlichen – überall herrscht ein verborgenes Gesetz, eine übergeordnete Ordnung. Hölderlin beschreibt so das Wirken einer göttlichen Gerechtigkeit, die auch im scheinbar Chaotischen und Dunklen („schiefesten Orkus“) ein „Grades“ und ein „Recht“ bewahrt. Der Mensch ist in diese kosmische Ordnung eingebettet, auch wenn sie sich ihm oft nur schwer erschließt.

In der dritten Strophe thematisiert das lyrische Ich die Beziehung zwischen den „Himmlischen“ und den Menschen. Die Götter führen den Menschen nicht wie „sterbliche Meister“ sicher über den „ebenen Pfad“. Stattdessen ist der Mensch auf sich selbst gestellt und muss den mühsamen, oft schmerzhaften Weg gehen, um zu wachsen. Die Erfahrung von Irrwegen und Brüchen gehört zum menschlichen Lebenslauf.

Die abschließende Lehre des Gedichts liegt in der Aufforderung der Himmlischen: Der Mensch soll „alles prüfen“, also sich der Vielfalt der Erfahrungen stellen. Daraus soll er Kraft schöpfen, Dankbarkeit lernen und die Freiheit verstehen, „aufzubrechen, wohin er will“. Das Gedicht verknüpft so Hölderlins Gedanken der Selbstbildung und Reifung mit dem Vertrauen in eine höhere Ordnung, die den Menschen lehrt, das Leben in all seinen Facetten anzunehmen und seinen Weg selbstverantwortlich zu gestalten.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.