Diotima
Komm und besänftige mir, die du einst Elemente versöhntest,
Wonne der himmlischen Muse, das Chaos der Zeit,
Ordne den tobenden Kampf mit Friedenstönen des Himmels,
Bis in der sterblichen Brust sich das Entzweite vereint,
Bis der Menschen alte Natur, die ruhige, große,
Aus der gärenden Zeit mächtig und heiter sich hebt.
Kehr in die dürftigen Herzen des Volks, lebendige Schönheit!
Kehr an den gastlichen Tisch, kehr in die Tempel zurück!
Denn Diotima lebt, wie die zarten Blüten im Winter,
Reich an eigenem Geist, sucht sie die Sonne doch auch.
Aber die Sonne des Geists, die schönere Welt, ist hinunter
Und in frostiger Nacht zanken Orkane sich nur.
Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Diotima“ von Friedrich Hölderlin ruft nach der Rückkehr einer höheren, versöhnenden Kraft, die das Chaos der Gegenwart in Harmonie verwandeln soll. Diotima, eine zentrale Figur in Hölderlins Werk und inspiriert von der gleichnamigen Lehrerin der platonischen Philosophie, steht hier für die lebendige Schönheit, die Einheit von Geist und Natur sowie für eine heilige Vermittlerin zwischen Mensch und Göttlichem.
Das lyrische Ich bittet Diotima, das „Chaos der Zeit“ zu besänftigen und den „tobenden Kampf“ zu ordnen. Hier zeigt sich Hölderlins wiederkehrendes Motiv der Entzweiung, also der Spaltung von Natur und Geist, Mensch und Kosmos. Diotima wird als Muse angerufen, die in der Vergangenheit bereits „Elemente versöhnt“ hat – sie verkörpert die Kraft, Gegensätze aufzulösen und Harmonie zu stiften. Das Ziel ist die Wiedergeburt der „alten Natur“ des Menschen, die als „ruhig“ und „groß“ beschrieben wird – ein Idealbild des harmonischen, ursprünglichen Seins.
Diotima wird zudem als Bringerin von Lebenskraft in eine verarmte Welt beschrieben. Die „dürftigen Herzen des Volks“, der „gastliche Tisch“ und die „Tempel“ warten auf ihre Rückkehr. Dies verweist auf den kulturellen und spirituellen Verfall der Gesellschaft, die der belebenden Wirkung der Schönheit und Weisheit bedarf. Die zarten Naturbilder – „Blüten im Winter“ – spiegeln das Bild einer zarten Hoffnung wider, die im Innern weiterlebt, trotz einer äußeren Welt in Erstarrung.
Im Schlussbild wird die Situation zugespitzt: Die „Sonne des Geists“ – Sinnbild für Erleuchtung und eine bessere Welt – ist untergegangen, während nur noch „Orkane“ sich „in frostiger Nacht“ zanken. Dieses Bild einer verwüsteten Welt, die sich im Zwist der Mächte verliert, betont die Dringlichkeit der Rückkehr Diotimas. Hölderlins Gedicht drückt so die tiefe Sehnsucht nach einer Wiedervereinigung von Geist, Natur und Schönheit aus, die das innere und äußere Chaos der Zeit zu heilen vermag.
Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.
Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.