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An die Natur

Von

Da ich noch um deinen Schleier spielte,
Noch an dir, wie eine Blüte, hing,
Noch dein Herz in jedem Laute fühlte,
Der mein zärtlichbebend Herz umfing,
Da ich noch mit Glauben und mit Sehnen
Reich, wie du, vor deinem Bilde stand,
Eine Stelle noch für meine Tränen,
Eine Welt für meine Liebe fand,

Da zur Sonne noch mein Herz sich wandte,
Als vernähme seine Töne sie,
Und die Sterne seine Brüder nannte
Und den Frühling Gottes Melodie,
Da im Hauche, der den Hain bewegte,
Noch dein Geist, dein Geist der Freude sich
In des Herzens stiller Welle regte,
Da umfingen goldne Tage mich.

Wenn im Tale, wo der Quell mich kühlte,
Wo der jugendlichen Sträuche Grün
Um die stillen Felsenwände spielte
Und der Aether durch die Zweige schien,
Wenn ich da, von Blüten übergossen,
Still und trunken ihren Othem trank
Und zu mir, von Licht und Glanz umflossen,
Aus den Höhn die goldne Wolke sank –

Wenn ich fern auf nackter Heide wallte,
Wo aus dämmernder Geklüfte Schoß
Der Titanensang der Ströme schallte
Und die Nacht der Wolken mich umschloß,
Wenn der Sturm mit seinen Wetterwogen
Mir vorüber durch die Berge fuhr
Und des Himmels Flammen mich umflogen,
Da erschienst du, Seele der Natur!

Oft verlor ich da mit trunknen Tränen
Liebend, wie nach langer Irre sich
In den Ozean die Ströme sehnen,
Schöne Welt! in deiner Fülle mich;
Ach! da stürzt ich mit den Wesen allen
Freudig aus der Einsamkeit der Zeit,
Wie ein Pilger in des Vaters Hallen,
In die Arme der Unendlichkeit. –

Seid gesegnet, goldne Kinderträume,
Ihr verbargt des Lebens Armut mir,
Ihr erzogt des Herzens gute Keime,
Was ich nie erringe, schenktet ihr!
O Natur! an deiner Schönheit Lichte,
Ohne Müh und Zwang entfalteten
Sich der Liebe königliche Früchte,
Wie die Ernten in Arkadien.

Tot ist nun, die mich erzog und stillte,
Tot ist nun die jugendliche Welt,
Diese Brust, die einst ein Himmel füllte,
Tot und dürftig, wie ein Stoppelfeld;
Ach! es singt der Frühling meinen Sorgen
Noch, wie einst, ein freundlich tröstend Lied,
Aber hin ist meines Lebens Morgen,
Meines Herzens Frühling ist verblüht.

Ewig muß die liebste Liebe darben,
Was wir lieben, ist ein Schatten nur,
Da der Jugend goldne Träume starben,
Starb für mich die freundliche Natur;
Das erfuhrst du nicht in frohen Tagen,
Daß so ferne dir die Heimat liegt,
Armes Herz, du wirst sie nie erfragen,
Wenn dir nicht ein Traum von ihr genügt.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: An die Natur von Friedrich Hölderlin

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „An die Natur“ von Friedrich Hölderlin ist eine tiefgründige Reflexion über den Verlust von Unschuld, Jugend und der intensiven Verbindung zur Natur. Es beginnt mit einer Erinnerung an eine Zeit, in der der Sprecher noch in enger Symbiose mit der Natur lebte und ihre Schönheit und ihre spirituelle Präsenz in jedem Detail fühlte. Der „Schleier“ der Natur und das „Herz in jedem Laute“ sprechen von einer kindlichen Wahrnehmung der Welt, in der alles lebendig und verbunden ist. Die Natur erscheint dem Sprecher als Quelle von Freude, Liebe und göttlicher Harmonie, und er empfand sich selbst als reich und erfüllt in dieser Verbindung.

Im Verlauf des Gedichts entwickelt sich jedoch ein Gefühl der Entfremdung und des Verlustes. Die Natur, die einst das Herz des Sprechers umfing, wird nun als etwas entferntes und unerreichbares dargestellt. Der Glaube und das Sehnen, die ihn früher in Einklang mit der Welt hielten, sind verschwunden. In den Bildern von stillen Tälern, in denen der Quell ihn kühlte, und von goldenen Wolken, die aus den Höhen herabsanken, bleibt eine Erinnerung an die Schönheit und Reinheit, die er einst erlebte. Doch diese Erinnerung ist nun von Trauer durchzogen, da er nicht mehr in der Lage ist, die gleiche Einheit mit der Natur zu erfahren. Die „goldnen Tage“ gehören der Vergangenheit an, und der Frühling, der ihm einst ein Gefühl der göttlichen Melodie vermittelte, ist nicht mehr gegenwärtig.

Hölderlin beschreibt weiterhin die Natur als eine Quelle der Heilung und der Liebe, die er in der Jugend empfand. Der „Titanensang der Ströme“ und der „Sturm mit seinen Wetterwogen“ symbolisieren die gewaltige, aber zugleich befreiende Kraft der Natur, die ihn in früheren Jahren begleitete. Das Bild des Pilgers, der in die „Arme der Unendlichkeit“ fällt, zeigt die Sehnsucht des Sprechers nach einer Rückkehr zu dieser göttlichen, grenzenlosen Verbindung. Doch dieses Gefühl der Fülle und Geborgenheit ist für ihn verloren, und die Realität seiner Gegenwart erscheint ihm leer und ausgebrannt.

Das Gedicht endet mit einer schmerzhaften Erkenntnis: Die „goldnen Kinderträume“ der Jugend sind vergangen, und die „freundliche Natur“ ist für ihn nur noch ein Schatten der Vergangenheit. Die Schönheit, die einst so selbstverständlich war, hat sich in eine karge „Stoppelfeld“-Welt verwandelt, und der Frühling seines Lebens ist verblüht. Der Verlust von Jugend und Idealen wird mit der Erkenntnis konfrontiert, dass die Liebe und die Freude, die er einst erlebte, nur ein flüchtiger Traum waren. Die „freundliche Natur“ existiert nicht mehr in der gleichen Form, und der Sprecher muss sich mit dem Wissen abfinden, dass das, was er verloren hat, nicht zurückkehren wird. Doch in diesem Verlust bleibt eine bittersüße Sehnsucht nach der einst erlebten Harmonie und dem Glauben an das Gute in der Welt.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.