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Die Erinnerung

Von

Graun der Mitternacht schliefst mich nicht ein,
Ihr Verstummen nicht; auch ist, in dem Namen der heiligen,
Freyheit, jüngst kein Mord geschehn; dennoch ist mir
Ernst die ganze Seele.

Liebliches Wehn unsäuselt mich;
Wenig ist nur des Laubes, das fiel, noch blühn der Blumen;
Dem Herbste gelingt Nachbildung des Sommers:
Aber meine ganze Seel‘ ist ernst!

Ach mich reisst die Erinnerung fort, ich kann nicht widerstehn!
Muss hinschauen nach Grabstäten, muss bluten lassen
Die tiefe Wund‘, aussprechen der Webmuth Wort:
Todte freunde, seyd gegrüsst!

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Gedicht: Die Erinnerung von Friedrich Gottlieb Klopstock

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die Erinnerung“ von Friedrich Gottlieb Klopstock ist ein kurzer, aber intensiver Ausdruck tiefer Melancholie und innerer Erschütterung. Es thematisiert den seelischen Zustand des lyrischen Ichs, das sich in einer Mischung aus stiller Trauer, Erinnerungszwang und unstillbarem Schmerz befindet. Trotz äußerem Frieden und schöner Natur ist die innere Welt des Sprechers geprägt von Ernst und Wehmut.

Die erste Strophe kontrastiert äußere Ruhe mit innerer Unruhe. Obwohl „Graun der Mitternacht“ und das „Verstummen“ der Nacht normalerweise Schlaf und Frieden bringen könnten, bleibt der Sprecher wach, bewegt von einer unbestimmten Ernsthaftigkeit. Selbst der Hinweis, dass kein neues politisches oder weltliches Unheil – wie ein Mord im Namen der Freiheit – geschehen sei, unterstreicht, dass der Grund seiner Verstimmung tiefer liegt: in der persönlichen Erinnerung.

In der zweiten Strophe erscheint die Natur in einem sanften, fast tröstlichen Licht. Das „liebliches Wehn“ und die herbstliche Landschaft mit den wenigen verbliebenen Blättern und Blumen deuten auf Vergänglichkeit hin, aber auch auf die Bemühung der Natur, den Sommer noch einmal nachzuahmen. Doch selbst diese milde Schönheit kann das Innere des Sprechers nicht beruhigen – seine „ganze Seel‘ ist ernst“. Der herbstliche Übergang wirkt wie ein Spiegel der inneren Leere.

Die letzte Strophe gibt der inneren Bewegung eine klare Richtung: Es ist die Erinnerung an verstorbene Freunde, die das Herz des lyrischen Ichs durchbohrt. Die Trauer ist nicht theoretisch oder abgewogen – sie ist eine offene, blutende Wunde, der man sich nicht entziehen kann. Der Ausruf „Todte freunde, seyd gegrüsst!“ verleiht dem Gedicht eine feierlich-innige Note: Die Erinnerung ist nicht nur schmerzhaft, sondern auch eine Form des inneren Gedenkens und der Treue über den Tod hinaus.

„Die Erinnerung“ ist ein stilles Klagelied, getragen von Klopstocks typisch empfindsamem Ton. Es zeigt eindrucksvoll, wie sehr Erinnern sowohl seelische Last als auch ehrenvolle Pflicht sein kann. Die Verbindung von Naturstimmung und innerer Gefühlslage steht ganz im Geist der empfindsamen Aufklärung, in der das Erleben des Einzelnen zur moralisch-poetischen Wahrheit wird.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

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