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Aganippe und Phiala

Von

Wie der Rhein im höheren Thal fern herkomt,
Rauschend, als käm Wald und Felsen mit ihm,
Hochwogig erhebt sich sein Strom,
Wie das Weltmeer die Gestade

Mit gehobner Woge bestürmt! Als donnr‘ er,
Rauschet der Strom, schäumt, fliegt, stürzt sich herab
Ins Blumengefild‘, und im Fall
Wird er Silber, das emporstäubt.

So ertönt, so strömt der Gesang; Thuiskon,
Deines Geschlechts. Tief lags, Vater, und lang
In säumendem Schlaf, unerweckt
Von dem Aufschwung und dem Tonfall

Des Apollo, wenn, der Hellänen Dichter,
Phöbus Apoll Lorbern, und dem Eurot
Gesänge des höheren Flugs
In dem Lautmaass der Natur sang,

Und den Hain sie lehrt‘, und den Strom. Weitrauschend
Halltest du’s ihm, Strom, nach, Lorber, und du
Gelinde mit lispelndem Wehn,
Wie der Nachhall des Eurotas.

Und Thuiskons Enkel entsprang tiefträumend,
Eiserner Schlaf, dir nicht, eiserner Schlaf!
Dir nicht; und erhabner erscholl
Von den Palmen um Phiala

Doch ihm auch Prophetengesang! Kaum stammelnd
Hört‘ er ihn schon! Früh sang, selber entflamt,
Die Mutter dem Knaben ihn vor,
Und dem Jüngling, dass er staunte!

Mit dem Schilfmeer braust‘ er! entscholl Garizim,
Donnert‘ am Bach Kison, tönt‘ auf der Höh
Moria, dass laut von dem Psalm
Vom Hosanna sie erbebte!

An dem Rebenhügel, ergoss die Klage
Sulamiths sich; Wehmuth, über dem Graun
Des Tempels in Trümmern, der Stadt
In der Hülle des Entsetzens!

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Gedicht: Aganippe und Phiala von Friedrich Gottlieb Klopstock

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Aganippe und Phiala“ von Friedrich Gottlieb Klopstock ist ein sprachlich kunstvolles, mythologisch und kulturell vielschichtiges Lob auf die Dichtung und ihre transzendente Kraft. Es verknüpft die nordische, germanische Welt („Thuiskon“) mit der griechisch-klassischen Dichtkunst (Apoll, Eurotas) und mit der hebräischen, prophetischen Tradition (Garizim, Moria, Sulamith). Klopstock erschafft dabei eine poetische Vision, in der der Ursprung der Dichtung aus verschiedenen Kulturkreisen zusammenfließt und sich im deutschen Dichtergeschlecht erneuert.

Im Zentrum steht das Bild des mächtigen Rheinstroms, der wie das Meer „mit gehobner Woge“ ins Tal donnert und sich im Fall in silbernen Sprühnebel verwandelt – eine Metapher für den erhabenen Gesang, der aus einer wuchtigen Quelle kommt und sich verfeinert in Klang, Schönheit und Inspiration. Dieser Strom des Gesangs steht sinnbildlich für die dichterische Kraft, die aus Naturgewalt entsteht und sich in künstlerischem Ausdruck sublimiert.

Die Dichtung des germanischen Volkes („Thuiskons Geschlecht“) lag lange im „säumenden Schlaf“, unerweckt von der klassischen Musenkunst Griechenlands. Doch der Impuls der Dichtung wird neu geboren – nicht durch Nachahmung, sondern aus innerer Berufung. Klopstock lässt die deutsche Dichtkunst nicht als Abklatsch der antiken Tradition erscheinen, sondern als etwas Eigenständiges, das aus einer tiefen, prophetischen Quelle stammt. Diese poetische Berufung zeigt sich bereits im Kind, das vom Gesang der Mutter ergriffen wird – Dichtung wird hier zum Generationen übergreifenden Erlebnis, zur Erweckung.

Die letzten Strophen führen die biblische Dimension ein: Der dichterische Gesang vereint sich mit den Stimmen der Propheten, mit der Klage Sulamiths, mit dem Weh der zerstörten Stadt Jerusalem. Die Dichtung reicht damit nicht nur über kulturelle Grenzen hinweg, sondern auch in die spirituelle Tiefe menschlicher Erfahrung – Klage, Hoffnung, Gebet, Ekstase. Das Gedicht endet in einer melancholisch-erhabenen Stimmung: Der Gesang erschüttert die heiligen Orte, erinnert an göttliche Gegenwart und menschliches Leid zugleich.

„Aganippe und Phiala“ ist somit ein poetisches Manifest, das Dichtung als etwas Heiliges und Weltumspannendes versteht – geboren aus Naturgewalt, überliefert durch Mütter, getragen von kulturellem Erbe und verwandelt durch Inspiration. Klopstock erhebt die deutsche Dichtkunst auf eine Stufe mit den klassischen und biblischen Traditionen und verleiht ihr eine fast prophetische Würde.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.