Die Poesie
Die Poesie, die Poesie,
Die Poesie hat immer recht,
Sie ist von höherer Natur
Von übermenschlichem Geschlecht.
Und kränkt ihr sie, und drückt ihr sie,
Sie schimpfet nie, sie grollet nie.
Sie legt sich in das grüne Moos,
Beklagend ihr poetisch Loos!
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Die Poesie“ von Friederike Kempner ist eine poetische Selbstreflexion über das Wesen und die Würde der Dichtung. In wenigen, klar formulierten Versen erhebt Kempner die Poesie zu einer nahezu überirdischen Instanz – ruhig, leidensfähig, aber unerschütterlich in ihrer Größe. Die Poesie wird nicht nur thematisiert, sondern personifiziert und zum stillen, edlen Gegenbild menschlicher Unvernunft gemacht.
In der ersten Strophe wird die Poesie mit emphatischer Wiederholung eingeführt: „Die Poesie, die Poesie“. Bereits diese Steigerung zeigt ihre zentrale Stellung. Sie „hat immer recht“, weil sie „von höherer Natur“ sei – nicht im Sinne absoluter Wahrheit, sondern als Ausdruck eines höheren, edleren Geistes. Die Vorstellung der Poesie als „übermenschlichem Geschlecht“ hebt sie aus der alltäglichen Wirklichkeit heraus und verleiht ihr eine fast mythische Aura.
Die zweite Strophe beschreibt ihre Reaktion auf Missachtung: Selbst wenn man sie kränkt oder unterdrückt, reagiert sie nicht mit Groll oder Zorn. Stattdessen zieht sie sich zurück – „in das grüne Moos“ – ein Bild für Naturverbundenheit, Bescheidenheit und Frieden. Dort beklagt sie still ihr Schicksal – poetisch, nicht klagend oder kämpferisch.
Kempners Darstellung der Poesie ist idealistisch und zart ironisch zugleich. Sie beschreibt ein Bild der Sanftheit und inneren Stärke, das sich jeder rohen Behandlung entzieht. Das Gedicht ist damit auch eine leise Kritik an einer Welt, die Dichtung verkennt oder gering schätzt – und ein stiller Lobgesang auf die Unbestechlichkeit des poetischen Geistes.
„Die Poesie“ wird bei Kempner zur moralischen Instanz: still, sensibel, aber unantastbar. Ihre Kraft liegt nicht im Kampf, sondern in der beharrlichen Existenz und der Treue zu sich selbst – ein poetisches Manifest in miniaturhafter Form.
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Lizenz und Verwendung
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