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Brigitte B.

Von

Ein junges Mädchen kam nach Baden,
Brigitte B. war sie genannt,
Fand Stellung dort in einem Laden,
Wo sie gut angeschrieben stand.

Die Dame, schon ein wenig älter,
War dem Geschäfte zugetan,
Der Herr ein höherer Angestellter
Der königlichen Eisenbahn.

Die Dame sagt nun eines Tages,
Wie man zu Nacht gegessen hat:
Nimm dies Paket, mein Kind, und trag es
Zu der Baronin vor der Stadt.

Auf diesem Wege traf Brigitte
Jedoch ein Individium,
Das hat an sie nur eine Bitte,
Wenn nicht, dann bringe er sich um.

Brigitte, völlig unerfahren,
Gab sich ihm mehr aus Mitleid hin.
Drauf ging er fort mit ihren Waren
Und ließ sie in der Lage drin.

Sie konnt‘ es anfangs gar nicht fassen,
Dann lief sie heulend und gestand,
Daß sie sich hat verführen lassen,
Was die Madam begreiflich fand.

Daß aber dabei die Turnüre
Für die Baronin vor der Stadt
Gestohlen worden sei, das schnüre
Das Herz ihr ab, sie hab‘ sie satt.

Brigitte warf sich vor ihr nieder,
Sie sei gewiß nicht mehr so dumm;
Den Abend aber schlief sie wieder
Bei ihrem Individium.

Und als die Herrschaft dann um Pfingsten
Ausflog mit dem Gesangverein,
Lud sie ihn ohne die geringsten
Bedenken abends zu sich ein.

Sofort ließ er sich alles zeigen,
Den Schreibtisch und den Kassenschrank,
Macht die Papiere sich zu eigen
Und zollt ihr nicht mal mehr den Dank.

Brigitte, als sie nun gesehen,
Was ihr Geliebter angericht‘,
Entwich auf unhörbaren Zehen
Dem Ehepaar aus dem Gesicht.

Vorgestern hat man sie gefangen,
Es läßt sich nicht erzählen wo;
Dem Jüngling, der die Tat begangen,
Dem ging es gestern ebenso.

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Gedicht: Brigitte B. von Frank Wedekind

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Brigitte B.“ von Frank Wedekind ist eine bitter-ironische Ballade, die in schlichter Sprache eine tragische Geschichte erzählt. Im Zentrum steht das junge Mädchen Brigitte, das aus ländlichem Umfeld nach Baden kommt, um in einem Laden zu arbeiten. Ihre Naivität, gepaart mit gutem Willen, macht sie anfällig für Verführung und Betrug – ein klassisches Motiv der bürgerlichen Moral- und Gesellschaftskritik, das Wedekind hier mit schwarzem Humor und resigniertem Ton bearbeitet.

Bereits die ersten Strophen zeichnen Brigitte als typisches Beispiel einer unschuldigen, pflichtbewussten jungen Frau, die sich in der Stadt zurechtfinden muss. Die Beschreibung des Haushalts, in dem sie arbeitet, wirkt bieder und geordnet – der Ehemann ist Beamter, die Frau geschäftstüchtig. Doch bald wird deutlich, dass diese Ordnung nur oberflächlich ist. Ein unbekannter „Individium“ – bewusst anonym und abwertend betitelt – verführt Brigitte durch eine emotionale Erpressung. Ihre gutgläubige Hilfsbereitschaft wird schamlos ausgenutzt.

Die Ballade spielt auf mehreren Ebenen mit Gegensätzen: Pflicht und Gefühl, Moral und Trieb, Schein und Wirklichkeit. Die Reaktion der Dame auf Brigitte ist bezeichnend: Sie zeigt Verständnis für das sexuelle Fehlverhalten, aber völlige Empörung über den Verlust der „Turnüre“ – ein satirischer Kommentar auf die bürgerliche Prioritätensetzung. Der moralische Verfall liegt nicht nur bei Brigitte oder dem „Individium“, sondern ebenso bei der scheinbar korrekten Umgebung, die sich als oberflächlich und gefühlskalt entlarvt.

Brigittes erneute Unterwerfung unter den Betrüger, trotz der erlebten Enttäuschung, offenbart eine Mischung aus emotionaler Abhängigkeit, Naivität und sozialer Hilflosigkeit. Die Eskalation folgt schnell: Der Geliebte raubt die Kasse, Brigitte flieht, und beide enden schließlich im Gefängnis. Das schnelle Ende, lakonisch geschildert, ist typisch für Wedekinds Stil: nüchtern, beiläufig, fast zynisch. Der moralische Zusammenbruch wird nicht dramatisch ausgeschmückt, sondern trocken konstatiert.

„Brigitte B.“ ist damit mehr als eine tragische Liebesgeschichte: Es ist eine beißende Kritik an Doppelmoral, emotionaler Abhängigkeit und dem Fehlen gesellschaftlicher Schutzräume für junge Frauen. Wedekind zeigt, wie eine scheinbar geordnete Welt junge Menschen ins Unglück treiben kann – nicht durch böswillige Absicht, sondern durch Ignoranz, Kälte und ein tief sitzendes Versagen der bürgerlichen Werteordnung.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.