Angst
O wie ist diese Nacht so schwer,
Und wie hangen die Wolken so tief.
Warum stöhnen die sanften Tiere,
Bluten laubdunkle Bäume,
Seufzt in jedem Winkel der Tod?
Wo sind die blassen Engel geblieben
Und die zittergoldenen Sterne?
Ist Gott gestorben?
O, diese Nacht ist tausend Jahre schwer.
Auf der Brücke geht noch mit hastigen Schritten ein Mann.
Er wird zu spät kommen –
In der Mansarde salbt der junge Priester
Den Mund der Sterbenden.
Eine schwarze Blume wächst furchtbar in ihre Fieber,
Aber selig umglänzt der Mond ihre Wangen.
In meinem Zimmer knistert die Kerze.
Schmächtige Schatten steigen aus den Wänden:
Leben, die ich gelebt habe und vergaß.
Ein Gesicht weint lange in meinen Händen.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Angst“ von Francisca Stoecklin taucht tief in das Gefühl der existenziellen Angst und Verzweiflung ein. Die ersten Zeilen schildern eine düstere und bedrückende Nacht, in der die „Wolken so tief“ hängen und die Welt von einer unbestimmten Schwere erfüllt ist. Der Tod scheint überall gegenwärtig, „in jedem Winkel“, was die allumfassende Angst verstärkt. Die Frage „Ist Gott gestorben?“ bringt eine tiefgreifende Krise des Glaubens zum Ausdruck, als ob die Welt in einer dunklen Stunde des Zweifels und der Verlassenheit gefangen ist. Diese Eindrücke von Verfall und Vergänglichkeit verleiht der Nacht eine fast unendliche, „tausend Jahre schwere“ Präsenz.
Der Mann auf der Brücke, der „zu spät kommen“ wird, steht symbolisch für den verzweifelten Versuch, dem Tod oder der Angst zu entkommen, aber er scheitert daran. Er wird nie rechtzeitig sein, um der Dunkelheit zu entkommen, was die Ohnmacht des Menschen angesichts der unaufhaltsamen Kräfte des Lebens und des Todes verdeutlicht. Parallel dazu wird der junge Priester in der Mansarde beschrieben, der den Sterbenden den „Mund“ salbt, was eine letzte Geste der Erlösung und Begleitung im Angesicht des Todes darstellt. Die „schwarze Blume“, die in das Fieber der Sterbenden wächst, verstärkt die unheimliche Atmosphäre, während der „selige Mond“ ihre Wangen umglänzt und eine kontrastierende Symbolik von Tod und spiritueller Erlösung aufzeigt.
Die Darstellung der eigenen Wahrnehmung des lyrischen Ichs vertieft das Gefühl der inneren Zerrissenheit und des Verlorenseins. In ihrem Zimmer ist es die Kerze, die knistert und die schmächtigen „Schatten“ der Vergangenheit aufsteigen lässt. Diese „Leben, die ich gelebt habe und vergaß“, sind verlorene Erinnerungen oder nicht gelebte Potenziale, die wie Schatten immer wieder in das Bewusstsein dringen. Das „Gesicht, das lange in meinen Händen weint“, könnte auf den Schmerz und die Trauer über das Vergehen der Zeit und das Unvermögen, diese Zeit zu kontrollieren oder zu bewahren, hinweisen.
Insgesamt vermittelt das Gedicht eine düstere, fast apokalyptische Stimmung, die sich aus der Auseinandersetzung mit dem Tod, dem Verlust von Glauben und der schmerzlichen Konfrontation mit der eigenen Vergänglichkeit speist. Es ist ein kraftvolles Bild für die existenzielle Angst, die den Menschen in dunklen Momenten des Lebens quält und in denen das Bewusstsein für den Tod und das Unbekannte besonders intensiv wird.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.