Kindesthränen
Willst du die Leiden dieser Erde,
Der Menschheit Jammer ganz versteh’n,
Mußt du mit scheuer Gramgeberde,
Ein Kind im Stillen weinen seh’n;
Ein Kind, das eben fortgewichen
Aus fröhlicher Gespielen Kreis
Und nun, vom ersten Schmerz beschlichen,
In Thränen ausbricht, stumm und heiß.
Du weißt nicht, was das kleine Wesen
So rauh und plötzlich angefaßt –
Doch ist’s in seinem Blick zu lesen,
Wie es schon fühlt des Daseins Last.
Wie es sich bang und immer bänger
Zurück schon in sein Inn’res zieht,
Weil es Bedränger auf Bedränger
Mit leisem Schaudern kommen sieht.
Willst du die Leiden dieser Erde,
Der Menschheit Jammer ganz versteh’n:
Mußt du mit scheuer Gramgeberde
Ein Kind im Stillen weinen seh’n.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Kindesthränen“ von Ferdinand Ludwig Adam von Saar beschreibt auf ergreifende Weise, wie sich im stillen Weinen eines Kindes das ganze Elend und die Trauer der Menschheit widerspiegeln. Saar schlägt vor, dass man die Leiden der Welt am tiefsten begreift, wenn man die erste stille Klage eines Kindes erlebt – ein Moment, in dem Unschuld erstmals auf die Härte des Lebens trifft.
Besonders bewegend ist das Bild des Kindes, das sich eben noch in unbeschwerter Fröhlichkeit befand und dann plötzlich, von einem ersten Schmerz getroffen, in heiße Tränen ausbricht. Der Grund bleibt dem Beobachter verborgen, doch im Ausdruck des Kindes liegt bereits das Bewusstsein der Lebenslast, die es ahnt, noch bevor es sie ganz versteht.
In eindrucksvollen, leisen Bildern beschreibt Saar, wie das Kind sich verunsichert in sein Inneres zurückzieht, weil es spürt, dass die Welt nicht nur freundlich ist. Die Erfahrung von Schmerz, Angst und Enttäuschung kündigt sich an – eine Vorahnung des künftigen Leidens, das jeden Menschen erwartet.
Mit schlichter, fast elegischer Sprache und einem sanften, wiederkehrenden Aufbau fängt das Gedicht die Zerbrechlichkeit menschlicher Existenz ein. Die Wiederholung der Anfangsverse am Schluss verstärkt den Eindruck einer melancholischen Erkenntnis: Das stille Weinen eines Kindes wird zum Sinnbild für das unausweichliche Leid, das zum menschlichen Leben gehört.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.