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Baum

Von

Zerdachter Turm,
Runenfels,
Furchensäule,
Gerieftes Bewusstsein:
Wagst Weite und Wolken, wie du willst,
Dich splitternd in die Nuancen,
In die Scheine deiner Dunkelheit.
Welchem Geiste gelänge solche Verzweigung,
Welcher Weisheit solche Verästelung,
Welchem Raffinement solche Zerblätterung?
Baum!
In zitternde Strahlen zerlegst du
Deine Nervosität.
Aber deine Äste leimt zart
Sphärenblauer Eiter des Mittags, zerschichtet von den kupfer-goldnen Telegraphenhaaren der Spinne.
Sehr absichtlich trägst du
Efeu, modernes Moos und die auffallende Lyrik einiger Vögel.
… Doch, bitte,
Bäume dich,
Und wehre dem Einkleid,
Zu bedrohen
Deine
Différenciation.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Baum von Ferdinand Hardekopf

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Baum“ von Ferdinand Hardekopf ist eine expressionistische Naturbeschreibung, die den Baum als komplexes, beinahe übermenschliches Gebilde darstellt. In intensiven, ungewöhnlichen Bildern wird der Baum nicht nur als Naturerscheinung, sondern auch als Symbol für geistige und emotionale Zustände beschrieben. Die Sprache ist dabei stark geprägt von der für den Expressionismus typischen Auflösung traditioneller Strukturen und einer kraftvollen Bildsprache.

Bereits die ersten Verse „Zerdachter Turm, Runenfels, Furchensäule“ zeigen den Baum als monumentales, fast mystisches Gebilde. Der Baum wird mit archaischen und rätselhaften Bildern in Verbindung gebracht, die ihn zu einer Art Sinnbild für das Bewusstsein selbst machen: „Gerieftes Bewusstsein“ deutet auf die innere Zerrissenheit und die Vielschichtigkeit hin, die sich im weiteren Verlauf des Gedichts in der „Verzweigung“ und „Verästelung“ spiegelt. Es wird eine Analogie zwischen der natürlichen Struktur des Baumes und geistigen oder emotionalen Prozessen gezogen.

Die nervöse Unruhe des Baumes, der sich „in zitternde Strahlen“ zerlegt, weist auf eine Spannung hin, die zwischen Ruhe und Bewegung, zwischen dem Streben in den Himmel und der Erdgebundenheit existiert. Gleichzeitig wird die Natur durch eigentümliche Details wie den „Sphärenblauen Eiter des Mittags“ oder die „kupfer-goldnen Telegraphenhaaren der Spinne“ verfremdet und mit einer Mischung aus Schönheit und Verstörung versehen – ein typisches Stilmittel des Expressionismus, um das Vertraute fremd wirken zu lassen.

Die letzten Verse wirken wie eine Mahnung an den Baum, sich nicht von äußeren Einflüssen – hier als „Einkleid“ bezeichnet – überwältigen zu lassen und seine „Différenciation“, also seine Eigenheit und Individualität, zu bewahren. Das Gedicht plädiert damit für die Bewahrung von Eigenständigkeit und Authentizität, auch im Angesicht äußerer Bedrohungen oder Vereinheitlichungen. Insgesamt steht der Baum als vieldeutiges Symbol für Kreativität, Komplexität und das Ringen um innere wie äußere Differenzierung.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.