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Die Toten an die Lebenden

Von

Die Kugel mitten in der Brust, die Stirne breit gespalten,
So habt ihr uns auf blut’gem Brett hoch in die Luft gehalten!
Hoch in die Luft mit wildem Schrei, daß unsre Schmerzgebärde
Dem, der zu töten uns befahl, ein Fluch auf ewig werde!
Daß er sie sehe, Tag und Nacht, im Wachen und im Traume –
Im Öffnen seines Bibelbuchs wie im Champagnerschaume!
Daß wie ein Brandmal sie sich tief in seine Seele brenne:
Daß nirgendwo und nimmermehr er vor ihr fliehen könne!
Daß jeder qualverzogne Mund, daß jede rote Wunde
Ihn schrecke noch, ihn ängste noch in seiner letzten Stunde!
Daß jedes Schluchzen um uns her dem Sterbenden noch schalle,
Daß jede tote Faust sich noch nach seinem Haupte balle –
Mög‘ er das Haupt nun auf ein Bett, wie andre Leute pflegen,
Mög‘ er es auf ein Blutgerüst zum letzten Atmen legen!

So war’s! Die Kugel in der Brust, die Stirne breit gespalten,
So habt ihr uns auf schwankem Brett auf zum Altan gehalten!
„Herunter!“ – und er kam gewankt – gewankt an unser Bette;
„Hut ab!“ – er zog – er neigte sich! (so sank zur Marionette,
Der erst ein Komödiante war!) – bleich stand er und beklommen!
Das Heer indes verließ die Stadt, die sterbend wir genommen!
Dann „Jesus meine Zuversicht!“ wie ihr’s im Buch könnt lesen:
Ein „Eisen meine Zuversicht!“ wär‘ paßlicher gewesen!

Das war den Morgen auf die Nacht, in der man uns erschlagen;
So habt ihr triumphierend und in unsre Gruft getragen!
Und wir – wohl war der Schädel uns zerschossen und zerhauen,
Doch lag des Sieges froher Stolz auf unsern grimmen Brauen.
Wir dachten: Hoch zwar ist der Preis, doch echt auch ist die Ware!
Und legten uns in Frieden drum zurecht auf unsrer Bahre.

Weh euch, wir haben uns getäuscht! Vier Monden erst vergangen,
Und alles feig durch euch verscherzt, was trotzig wir errangen!
Was unser Tod euch zugewandt, verlottert und verloren –
O, alles, alles hörten wir mit leisen Geisterohren!
Wie Wellen braust‘ an uns heran, was sich begab im Lande:
Der Aberwitz des Dänenkriegs, die letzte Polenschande;
Das rüde Toben der Vendee in stockigen Provinzen;
Der Soldateska Wiederkehr, die Wiederkehr des Prinzen;
Die Schmach zu Mainz, die Schmach zu Trier; das Hänseln, das Entwaffnen
Allüberall der Bürgerwehr, der eben erst geschaffnen;
Die Tücke, die den Zeughaussturm zu einem Diebszug machte,
Die selber uns, die selbst das Grab noch zu begeifern dachte;
Soweit es Barrikaden gab, der Druck auf Schrift und Rede;
Mit der Versammlung freiem recht die täglich frechre Fehde;
Der Kerkertore dumpf Geknarr im Norden und im Süden;
Für jeden, der zum Volke steht, das alte Kettenschmieden;
Der Bund mit dem Kosakentum; das Brechen jedes Stabes,
Ach, über euch, die wert ihr seid des lorbeerreichsten Grabes:
Ihr von des Zukunftsdranges Sturm am weitesten Getragnen!
ihr – Junikämpfer von Paris! Ihr siegenden Geschlagnen!
Dann der Verrat, hier und am Main im Taglohn unterhalten –
O Volk, und immer Friede nur in deines Schurzfells Falten?
Sag‘ an, birgt es nicht auch den Krieg? den Krieg herausgeschüttelt!
Den zweiten Krieg, den letzten Krieg mit allem, was dich büttelt!
Laß deinen Ruf: „Die Republik!“ die Glocken überdröhnen,
Die diesem allerneusten Johannesschwindel tönen!

Umsonst! es täte not, daß ihr uns aus der Erde grübet,
Und wiederum auf blut’gem Brett hoch in die Luft erhübet!
Nicht, jenem abgetanen Mann, wie damals, uns zeigen –
Nein, zu den Zelten auf den Markt, ins Land mit uns zu steigen!
Hinaus ins Land, so weit es reicht! Und dann die Insurgenten
Auf ihren Bahren hingestellt in beiden Parlamenten!

O ernste Schau! Da lägen wir, im Haupthaar Erd‘ und Gräser,
Das Antlitz fleckig, halbverwest – die rechten Reichsverweser!
Da lägen wir uns sagten aus: Eh‘ wir verfaulen konnten,
Ist eure Freiheit schon verfault, ihr trefflichen Archonten!
Schon viel das Korn, das keimend stand, als wie im Märze starben:
Der Freiheit Märzsaat ward gemäht noch vor den andern Garben!
Ein Mohn im Felde hier und dort entging der Sense Hieben –
O, wär‘ der Grimm, de rote Grimm, im Lande so geblieben!

Und doch, er blieb! Es ist ein Trost im Schelten uns gekommen:
Zu viel schon hattet ihr erreicht, zu viel ward euch genommen!
Zu viel des Hohns, zu viel der Schmach wird täglich euch geboten:
Euch muß der Grimm geblieben sein – o, glaubt es uns, den Toten!
Er blieb euch! ja, und er erwacht! er wird und muß erwachen!
Die halbe Revolution zur ganzen wird er machen!
Er wartet nur des Augenblicks: dann springt er auf allmächtig,
Gehobnen Armes, wehnden Haars dasteht er wild und prächtig!
Die rost’ge Büchse legt er an, mit Fensterblei geladen:
Die rote Fahne läßt er wehn hoch auf den Barrikaden!
Sie fliegt voran der Bürgerwehr, sie fliegt voran dem Heere –
Die Throne gehn in Flammen auf, die Fürsten fliehn zum Meere!
Die Adler fliehn; die Löwen fliehn; die Klauen und die Zähne! –
Und seine Zukunft bildet selbst das Volk, das souveräne!
Indessen, bis die Stunde schlägt, hat dieses unser Grollen
Euch, die ihr vieles schon versäumt, das Herz ergreifen wollen!
O, steht gerüstet! Seid bereit! O, schaffet, daß die Erde,
Darin wir liegen strack und starr, ganz eine freie werde!
Daß fürder der Gedanke nicht uns stören kann im Schlafen:
Sie waren frei: doch wieder jetzt – und ewig! – sind sie Sklaven!

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Gedicht: Die Toten an die Lebenden von Ferdinand Freiligrath

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die Toten an die Lebenden“ von Ferdinand Freiligrath ist ein leidenschaftlicher Appell der gefallenen Revolutionäre an die Überlebenden der 1848er Revolution. In eindringlicher Sprache klagen die Toten die Lebenden an, weil sie die Errungenschaften der Revolution durch Feigheit und Nachgiebigkeit verspielt haben. Der Geist der Revolution, so die Botschaft, darf nicht verblassen, sondern muss zu einem neuen, endgültigen Aufstand führen.

Die ersten Strophen schildern das brutale Ende der Aufständischen. Ihre grausamen Wunden und ihr gewaltsamer Tod sollen den Verantwortlichen ein ewiges Mahnmal sein. Freiligrath nutzt starke Bilder von Blut, Schmerz und Rache, um die Erinnerung an das Opfer der Toten wachzuhalten. Doch statt einer heroischen Würdigung ihrer Tat müssen die Gefallenen erkennen, dass die Überlebenden ihre Ideale verraten haben.

Der mittlere Teil des Gedichts beschreibt die politischen Rückschläge nach der Revolution: die Restauration der alten Mächte, die Unterdrückung der Freiheitsbewegung und das Versagen der Bürgerlichen, die für die Freiheit gekämpft hatten. Die Toten hören mit „leisen Geisterohren“, wie all ihre Errungenschaften zunichtegemacht werden. Diese Enttäuschung steigert sich in eine aufrüttelnde Anklage, die die Lebenden zur Verantwortung zieht.

Der letzte Teil des Gedichts ist ein Aufruf zur erneuten Revolution. Die gefallenen Kämpfer sollen erneut aus ihren Gräbern erhoben und dem Volk als Mahnung gezeigt werden. Doch letztlich ruht die Hoffnung auf den Lebenden: Der „Grimm“ der Unterdrückten wird wieder erwachen, die Revolution muss vollendet werden. Freiligrath entfaltet eine visionäre Vorstellung vom endgültigen Sieg des Volkes über die Tyrannei, in der sich das Streben nach Freiheit mit einem fast apokalyptischen Bild des Umsturzes verbindet. So bleibt das Gedicht ein kämpferisches Manifest für die revolutionären Ideale seiner Zeit.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.