Sehnsucht
Ich sehne mich nach einer Traumgestalt,
Nach einem unberührten, keuschen Wesen,
Das noch im Buch der Sünde nicht gelesen,
Das Wollust nicht einmal im Geist umkrallt.
In ihrer Seele müßte Mitleid wohnen
Mit jedem Menschen und mit jedem Tier,
Am allermeisten aber doch mit mir,
In dem das Elend und die Marter thronen.
Und wie vom übervollen Weinpokal
Die goldnen Fluten achtlos niederschießen,
Müßt‘ ihre Himmelsreinheit mich umfließen
Und tilgen meiner Seele Sündenqual.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Sehnsucht“ von Felix Dörmann thematisiert die tiefe, fast religiös anmutende Sehnsucht nach einer idealisierten, reinen und unschuldigen Gestalt. Das lyrische Ich projiziert auf diese „Traumgestalt“ den Wunsch nach Erlösung von persönlichem Leid und innerer Schuld. Dabei wird das Verlangen nach Reinheit und moralischer Unversehrtheit zum Gegenbild der eigenen, von „Elend“ und „Marter“ gezeichneten Existenz.
Die erste Strophe hebt die Unerreichbarkeit und Reinheit dieser Sehnsuchtsfigur hervor: Sie soll „unberührt“ und „keusch“ sein, fern von jeder Erfahrung der Sünde. Die Vorstellung, dass sie „nicht einmal im Geist“ der Wollust verfallen ist, zeigt den extremen Idealismus und die fast überhöhte Erwartungshaltung des lyrischen Ichs an diese Gestalt. Es handelt sich hier weniger um ein reales Gegenüber als vielmehr um ein inneres Bild vollkommener Unschuld.
In der zweiten Strophe offenbart sich die Hoffnung auf Mitleid und Erlösung. Diese reine Seele soll nicht nur allgemeines Mitgefühl empfinden, sondern vor allem für das lyrische Ich, das sich selbst als Ort des Leidens und der „Marter“ beschreibt. Das lyrische Ich sieht sich als besonders hilfsbedürftig und unerlöst, wodurch der Wunsch nach Heilung durch die andere Person noch verstärkt wird.
Die dritte Strophe steigert diese Erlösungssehnsucht ins Sakrale: Die „Himmelsreinheit“ der Frau soll das Ich „umfließen“ wie der Wein aus einem „übervollen Pokal“. Das Bild verweist auf eine reinigende, beinahe göttliche Kraft, die das „Sündenqual“ des lyrischen Ichs hinwegspülen könnte. Damit wird das Gedicht zu einer poetischen Darstellung des Wunsches nach Reinigung und transzendenter Befreiung aus einem von Schuld und Leid belasteten Dasein.
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Lizenz und Verwendung
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