Reue
Daß mir der Vater gar so früh gestorben,
Das war für mich der allerärgste Schlag;
Das ist’s, was ich beweine Tag für Tag,
Das ist der Grund, warum ich ganz verdorben.
Ach, ungestüm und liebelechzend rollen
Die Flammenbäche meines wilden Bluts,
Und jene Gabe dann des Wankelmuts
Und jenes sieche, trotzig-scheue Wollen…
O hätte meinem ersten Wollustlallen
Des Vaters gütig starke Hand gewehrt,
So wäre meine Stirn nicht lustentehrt,
Und nimmer wär ich gar so tief gefallen.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Reue“ von Felix Dörmann ist ein eindringliches Selbstbekenntnis, in dem das lyrische Ich mit tiefem Bedauern auf den eigenen Lebensweg zurückblickt. Im Zentrum steht der frühe Tod des Vaters, der als ursächlicher Wendepunkt empfunden wird – ein Verlust, der nicht nur emotional schmerzt, sondern auch als moralischer und charakterlicher Bruch gedeutet wird. Der Vater erscheint dabei nicht nur als Bezugsperson, sondern als moralische Instanz, als Korrektiv, das gefehlt hat.
Das lyrische Ich macht deutlich, dass der Tod des Vaters nicht nur ein persönliches Unglück war, sondern der „allerärgste Schlag“, der zur moralischen Desorientierung führte. Der Schmerz darüber ist so tief, dass er täglich beweint wird, und er wird als der Grund für das eigene „Verdorbensein“ genannt. Diese schonungslose Selbsteinschätzung deutet auf ein tiefes Schuldgefühl und auf das Bedürfnis nach Läuterung hin.
In der zweiten Strophe beschreibt Dörmann mit starker Bildsprache die unkontrollierte Leidenschaft und innere Zerrissenheit des Ichs: „Flammenbäche“ stehen für wilde Begierde, „Wankelmut“ und „trotzig-scheues Wollen“ für Unbeständigkeit und rebellisches Verhalten. Das Ich erscheint zerrissen zwischen Verlangen und Scham, zwischen Impulsivität und dem Wunsch nach Kontrolle. Diese inneren Kämpfe werden als direkte Folge der vaterlosen Erziehung empfunden.
Die letzte Strophe formuliert eine Art Gegenutopie: Hätte der Vater noch gelebt, so wäre das Ich nicht in die Sünde und Zügellosigkeit gefallen. Die „gütig starke Hand“ des Vaters hätte die erste „Wollust“ unterbunden, das Ich hätte seine Unschuld – „die Stirn“ – bewahren können. Der Ausdruck „lustentehrt“ weist dabei sowohl auf sexuelle Entgleisung als auch auf den Verlust innerer Reinheit hin.
„Reue“ ist ein Gedicht voller existenzieller Schuldgefühle und der Sehnsucht nach moralischer Führung. Es verbindet das Motiv des verlorenen Vaters mit einer intensiven Selbstanklage. Dörmann gelingt eine beklemmend ehrliche Darstellung innerer Zerrissenheit, in der nicht nur Reue über vergangene Taten mitschwingt, sondern auch ein tiefes Bedürfnis nach Halt, Autorität und Läuterung.
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Lizenz und Verwendung
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