Erste Silbe
Der Erde schenk′ ich tiefen Frieden,
Breit′ ich den weiten Mantel aus.
Ein luftig Haus steht mir im Süden,
Im Norden steht mein festes Haus.
Ergreifend ist mein stilles Schweigen,
Entzückend ist mein stilles Licht,
Ein falscher Schein soll mich verscheuchen,
Vertreiben kann er doch mich nicht.
Oft flieht der Schlaf in meiner Nähe,
Oft bring′ ich Müden Trost und Ruh′,
Oft schärf′ ich peinlich Leid und Wehe,
Oft drück′ ich wunde Augen zu.
Mein Reich hat viele Untertanen
Vom Vogel bis zum Schmetterling,
Die wandeln still auf meinen Bahnen,
Die ich auf Lebenszeit umfing.
Heut bin ich leise weggeschlichen,
Ich wiegte dich in süßen Traum,
Dir wohlzutun bin ich entwichen
Und lasse andern Freunden Raum.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Erste Silbe“ von Marianne von Willemer ist eine lyrische Selbstbeschreibung, die in einer Reihe von Gegensätzen und Metaphern die Natur, die Aufgaben und die Vergänglichkeit des Schlafes beleuchtet. Die erste Strophe etabliert die umfassende Präsenz des Schlafes, der sowohl Frieden spendet als auch als schützender Mantel die Welt umhüllt. Die Metaphern „luftig Haus“ und „festes Haus“ deuten auf die allgegenwärtige, aber auch variable Natur des Schlafes hin, der sich in verschiedenen Formen manifestiert.
In der zweiten Strophe wird die widersprüchliche Natur des Schlafes weitergeführt. Er wird als „still“ und „entzückend“ charakterisiert, aber auch als etwas, das von „falschem Schein“ nicht vertrieben werden kann. Diese Zeilen deuten auf die tiefe Verwurzelung des Schlafes im menschlichen Leben hin, seine Unvermeidlichkeit und seine Fähigkeit, trotz widriger Umstände zu bestehen. Das Licht, das den Schlaf zu verscheuchen versucht, steht hier symbolisch für die Realität und die Sorgen des Wachseins.
Die dritte Strophe offenbart die ambivalente Wirkung des Schlafes: Einerseits bietet er Trost und Ruhe, andererseits kann er Leid und Schmerz verstärken. Dies deutet auf die komplexe Beziehung zwischen Schlaf und menschlichem Befinden hin, wo Erholung und Verarbeitung von Erfahrungen Hand in Hand gehen. Der Schlaf wird hier als eine instinktive Erfahrung dargestellt, die dem Menschen Trost spendet, aber auch die Verarbeitung von Emotionen ermöglicht.
Die vierte Strophe illustriert die umfassende Reichweite des Schlafes, der sowohl Menschen als auch Tiere umfasst. Diese Universalität unterstreicht die fundamentale Bedeutung des Schlafes für das Leben. Die Metapher der „Untertanen“ betont die natürliche Unterordnung aller Lebewesen unter den Schlaf, die auf seinen Bahnen „wandeln“. Das Gedicht schließt mit einer sanften Verabschiedung, in der sich der Schlaf vorübergehend zurückzieht, um anderen „Freunden“ Raum zu geben. Dieses abschließende Geständnis deutet auf die Zyklizität des Schlafes hin und auf seine ständige Bereitschaft, wiederzukehren und Trost zu spenden.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.