An Ernst Stadler
Ich grüße dich in der Ferne, ich begrüße deine weit spannende Nähe!
Du, den ich nicht kenne.
Aber ich sehe und erkenne hell deine ziehende Stimme
Hin durch die Abendzonen meines frühen Grams:
Die braunen Länder, die von Wolken triefen,
Sind noch vom Weilen meiner Füße jung,
Von Wünschen schwebend noch, die leuchtend aus mir riefen,
Neu wie das Meer, das sich dahinter weitet,
Darüber noch von jüngster Fahrt beschwingte Dünung kreisend gleitet.
Meine Stimme, in deine Bezirke verschlagen,
Ward ergriffen, begriffen von dir
Und reif und gereinigt mir zugetragen.
In mancher Stunde verwitterter Nacht,
Bevor ich wusste von deinem durchbluteten Wesen,
Habe ich dich erdacht und lebendig gemacht
Und deine Bruderverse mir vorgelesen.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „An Ernst Stadler“ von Ernst Wilhelm Lotz ist eine emotionale und nachdenkliche Hommage an den Dichter Ernst Stadler, der im Ersten Weltkrieg gefallen ist. Zu Beginn des Gedichts beschreibt der Sprecher eine ferne, aber zugleich greifbare Nähe zu Stadler. Diese „weit spannende Nähe“ wird durch das Bild des „Zuges der Stimme“ hervorgehoben, der den Sprecher über „die Abendzonen“ seines „frühen Grams“ begleitet. Es entsteht eine Verbindung zwischen den beiden, obwohl sie sich nie persönlich begegnet sind, was auf die Kraft der Poesie hinweist, Menschen über die Distanz von Zeit und Raum hinweg miteinander zu verbinden.
Der Sprecher reflektiert dann über die Landschaften und die Erinnerungen, die ihn mit Stadler verbinden. Die „braunen Länder“ und die „Wolken“ symbolisieren die Reise des Dichters, aber auch die Schwere des Lebens und der Verluste, die durch den Krieg geprägt sind. Der „frühe Gram“ verweist auf das Gefühl der Trauer oder den Verlust von etwas Kostbarem, möglicherweise die Erinnerung an Stadler selbst. Doch trotz dieser Schwere gibt es auch eine gewisse Leichtigkeit und Hoffnung, symbolisiert durch das „Neue wie das Meer“ und die „Dünung“, die von „jüngster Fahrt“ getragen wird. Es ist ein Bild für die ständige Bewegung und Veränderung im Leben, auch im Angesicht von Trauer und Verlust.
Im dritten Abschnitt spricht der Sprecher davon, wie seine „Stimme“ in die „Bezirke“ von Stadler gelangt ist und wie er durch Stadlers Werk eine Art Reinigung und Erhebung erfahren hat. Die „Stimme“ des Sprechers wird als ergriffen und verstanden durch Stadlers Dichtung dargestellt, was die transformative Kraft der Poesie betont. Es ist ein Moment der Anerkennung und der Verbindung, in dem das lyrische Ich sich durch das Lesen von Stadlers Werken erleuchtet und bereichert fühlt. Die reinigende Wirkung der Poesie wird hier als ein zentraler Aspekt der Verarbeitung von Schmerz und Verlust dargestellt.
Im abschließenden Vers geht es um die Erinnerung an Stadler und die lebendige Vorstellung von ihm, die der Sprecher in der Dunkelheit der „verwitterten Nacht“ hegt. Der Sprecher hat Stadler „erdacht und lebendig gemacht“, noch bevor er von dessen „durchbluteten Wesen“ wusste. Diese Worte zeigen die tiefgründige Bewunderung des Sprechers für den Dichter und die enge geistige und emotionale Verbindung, die trotz der physischen Trennung besteht. Durch das Vorlesen von Stadlers „Bruderversen“ – also seinen Gedichten – hat der Sprecher eine Form von Gemeinschaft und Kontinuität mit dem Verstorbenen gefunden. Es geht hier um den Erhalt von Erinnerung und Einfluss über den Tod hinaus, was auf die unsterbliche Kraft der Dichtung hinweist.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.