Sonnwendabend
Die Sträucher ducken fiebernd sich zusammen
im Rieseln brauner Schleier und im Schwanken
nachtbleicher Falter um erglühte Ranken.
Nun schüren wir das falbe Laub zu Flammen
und feiern wiegend in verlornen Tänzen
und Liedern· die im lauen Duft verfluten·
den flüchtigen Rausch der sommerlichen Gluten
und Mädchen weich das Haar genetzt mit Kränzen
und strahlend bleich im schwebenden Gefunkel
streun brennend dunklen Mohn und blasse Nelken.
Und bebend fühlen wir den Abend welken.
Und wilder glühn die Feuer in das Dunkel.
Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Sonnwendabend“ von Ernst Stadler beschreibt in dichterischer, impressionistisch geprägter Sprache ein Midsommer-Ritual, bei dem Natur, Feier und sinnliche Wahrnehmung zu einem flirrenden, rauschhaften Gesamtbild verschmelzen. Es ist ein Moment zwischen Tag und Nacht, zwischen Ekstase und Vergänglichkeit, in dem das lyrische Ich in intensiver Weise die Atmosphäre eines Sommersonnenwendabends erlebt.
Schon in der ersten Strophe wird eine unruhige, fast fiebrige Natur beschrieben: Die Sträucher ducken sich, Schleier rieseln, Falter schwanken – ein Bild des Übergangs, des Verstummens oder Zurückweichens, das durch die Steigerung in „erglühte Ranken“ zu einem ersten Höhepunkt kommt. Inmitten dieser Bewegung entzünden die Menschen das Laub, ein symbolischer Akt des Loslassens und Feierns, aber auch der Vergänglichkeit.
Die zweite Strophe lenkt den Fokus auf das Fest selbst. Tänze und Lieder erscheinen wie in Trance, „verflutend“ im Duft des Abends – eine fast narkotische Sinnlichkeit liegt in der Szene. Besonders auffällig ist die Darstellung der Mädchen mit Kränzen im Haar: Sie verkörpern Jugend, Schönheit und auch den Hauch von Kultischem. Die Feier nimmt Züge eines heidnischen Rituals an, wobei die Grenze zwischen Individuum und Natur sich zunehmend auflöst.
Mit dem „schwebenden Gefunkel“ und dem Streuen von Mohn und Nelken steigert sich das Gedicht in der dritten Strophe nochmals – nun schimmert eine mystische Komponente durch. Mohn, Symbol des Schlafs und der Vergänglichkeit, und die „brennend dunklen“ Farben verweisen auf das Unausweichliche: den nahenden Tod, das Vergehen der sommerlichen Blüte. Dennoch herrscht keine Beklommenheit, sondern ein bebendes Erleben der Gegenwart.
Die Schlusszeile „Und wilder glühn die Feuer in das Dunkel“ bringt das Gedicht zu einem dramatischen Abschluss. Die Feuer, Sinnbild für Leben, Leidenschaft und Verwandlung, brennen gegen das Dunkel der Nacht – möglicherweise auch gegen das Dunkel der Existenz selbst. Stadlers Sprache ist reich an klanglichen und bildlichen Reizen, der Rhythmus wirkt wie ein wellenartiger Tanz zwischen Ekstase und Vergehen.
„Sonnwendabend“ ist somit ein symbolistisch geprägtes Stimmungsbild, das in rauschhafter Intensität die Schönheit eines Augenblicks feiert – in dem bereits die Ahnung seines Endes mitschwingt. Es ist ein Gedicht über Übergänge: vom Tag zur Nacht, von der Jugend zum Verwelken, vom sinnlichen Rausch zur stillen Erkenntnis.
Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.
Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.