An die Schönheit
So sind wir deinen Wundern nachgegangen
wie Kinder die vom Sonnenleuchten trunken
ein Lächeln um den Mund voll süßem Bangen
und ganz im Strudel goldnen Lichts versunken
aus dämmergrauen Abendtoren liefen.
Fern ist im Rauch die große Stadt ertrunken
kühl schauernd steigt die Nacht aus braunen Tiefen.
Nun legen zitternd sie die heißen Wangen
an feuchte Blätter, die von Dunkel triefen
und ihre Hände tasten voll Verlangen
auf zu dem letzten Sommertagsgefunkel
das hinter roten Wäldern hingegangen –
ihr leises Weinen schwimmt und stirbt im Dunkel.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „An die Schönheit“ von Ernst Stadler beschreibt die gleichsam verklärte und zugleich tragische Beziehung des Menschen zur Schönheit und deren Vergänglichkeit. Zu Beginn wird die Schönheit in Form des goldenen Sonnenlichts dargestellt, das die Menschen wie Kinder anzieht. Ihre „Wundern“ werden als verführerisch und fast wie ein berauschender Zustand beschrieben, in dem sie „voll süßem Bangen“ und „versunken“ sind. Diese kindliche Unschuld und das Staunen stehen in starkem Kontrast zur kommenden Dunkelheit und dem Verlust.
Die „dämmergrauen Abendtoren“ symbolisieren den Übergang von Tag zu Nacht und damit auch den Übergang von Licht zu Dunkelheit, von Leben zu Tod. Die „große Stadt“ im Rauch, die zu versinken scheint, könnte als Metapher für den Verlust von etwas Großem und Bedeutendem im Leben des Menschen verstanden werden, das nun „ertrunken“ ist. Stadler beschreibt hier eine tiefe Melancholie und das schleichende Verschwinden von Schönheit und Leben, das die Menschen sowohl mit Sehnsucht als auch mit Unbehagen erfüllt.
Mit dem Einbruch der Nacht wird die Szene immer düsterer und kälter. Die „braunen Tiefen“ aus denen die Nacht aufsteigt, vermitteln eine düstere, fast bedrohliche Atmosphäre. Die „heißen Wangen“ und die feuchten „Blätter“, die von Dunkel triefen, bringen eine starke körperliche Präsenz in das Gedicht, die gleichzeitig eine Beklemmung erzeugt. Der Wunsch nach dem „letzten Sommertagsgefunkel“, das bereits „hinter roten Wäldern hingegangen“ ist, verdeutlicht das Streben nach etwas Vergangenem und Unerreichbarem, das den Leser mit einer bittersüßen Nostalgie erfüllt.
Das Gedicht endet mit einem leisen, fast unhörbaren „Weinen“, das im Dunkel „schwimmt und stirbt“. Dies unterstreicht die Endlichkeit des Moments und die Unaufhaltsamkeit des Verfalls der Schönheit. Es ist ein elegischer Blick auf die Vergänglichkeit und den Verlust der Schönheit, die sich in der Nacht und der Dunkelheit auflöst. Stadler vermittelt mit diesen Bildern das Gefühl von Verlangen und Resignation angesichts des unausweichlichen Schwindens von Licht und Leben.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.