Der Nervenschwache
Mit einer Stirn, die Traum und Angst zerfraßen,
Mit einem Körper, der verzweifelt hängt
An einem Seile, das ein Teufel schwenkt,
– So läuft er durch die langen Großstadtstraßen.
Verschweinte Kerle, die die Straße kehren,
Verkohlen ihn; schon gröhlt er arienhaft:
„Ja, ja – ja, ja! Die Leute haben Kraft!
Mir wird ja nie, ja nie ein Weib gebären
Mir je ein Kind!“ Der Mond liegt wie ein Schleim
Auf ungeheuer nachtendem Velours.
Die Sterne zucken zart wie Embryos
An einer unsichtbaren Nabelschnur.
Die Dirnen züngeln im geschlossnen Munde,
Die Dirnen, die ihn welkend weich umwerben.
Ihn ängsten Darmverschlingung, Schmerzen, Sterben,
Zuhältermesser und die großen Hunde.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Der Nervenschwache“ von Ernst Blass zeigt die geistige und emotionale Zerrüttung eines Individuums in einer hektischen Großstadtumgebung. Der erste Vers beschreibt den Zustand des lyrischen Ichs als einen, der von „Traum und Angst zerfressen“ ist – ein Bild für eine innere Qual, die den Menschen gleichzeitig in einem Zustand der Paralyse und der Verwirrung hält. Der „Körper, der verzweifelt hängt“ und das „Seil, das ein Teufel schwenkt“, erzeugen eine Assoziation von Ohnmacht und auswegloser Bedrängnis, als ob der Mensch von dunklen, unkontrollierbaren Kräften hin- und hergerissen wird.
In der zweiten Strophe wird das Bild des Verlierers weiter verstärkt, als der Nervenschwache durch die Straßen läuft und sich von der Welt um ihn herum abgetrennt fühlt. Die „verschweinten Kerle, die die Straße kehren“, scheinen ihm feindlich gesinnt, während sein Ausruf, dass er „nie ein Weib gebären“ werde, seine Entfremdung von den normativen Rollen und Erwartungen der Gesellschaft widerspiegelt. Er erkennt sich als einen Außenseiter, der von der „Kraft“ und Vitalität der anderen Menschen weit entfernt ist.
Die dritte Strophe kontrastiert die drückende, leidvolle Realität des Ichs mit einem surrealen, fast visionären Bild der Nacht. Der Mond, der „wie ein Schleim“ auf dem „Velours“ liegt, und die „zuckenden Sterne“, die „wie Embryos“ an einer „unsichtbaren Nabelschnur“ hängen, symbolisieren die Fragmentierung und den inneren Zerfall. Diese Bilder suggerieren ein Gefühl der Gebundenheit an etwas Unerklärliches und Unheilsvolles, als ob das lyrische Ich nicht nur in der realen Welt, sondern auch in seiner eigenen Wahrnehmung gefangen ist.
Die letzte Strophe bringt eine düstere, fast bedrohliche Atmosphäre in das Gedicht. Die „Dirnen“, die ihn „welkend weich umwerben“, und die Drohung von „Darmverschlingung, Schmerzen, Sterben“ verstärken das Bild der Angst und der Verzweiflung. Der Nervenschwache ist von einer Welt umgeben, die ihn mit Gewalt und Angst bedroht, und die „Zuhältermesser und die großen Hunde“ symbolisieren die unbarmherzige Gesellschaft, die ihn zu zerstören droht. Diese abschließenden Bilder der Gefahr und der Unmenschlichkeit unterstreichen die tiefgehende Entfremdung und das Fehlen einer Verbindung zur Welt.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.