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Produktion

Von

Denk ich zurück an meine frühsten Wochen:
Ich sog an hochgeblähten Ammenbrüsten,
von guten Tanten liebevoll berochen,
die zahnlos schnalzend den Popo mir küssten.
Doch was ich dann in stiller Reflexion
in meiner Wiege Windeltuch verrichtet,
mich mühsam reckend mit gestrafften Beinen,
das ward ­ des Kindes ganze Produktion ­
in Seifenzubern und an Wäscheleinen
hinweggespült, getrocknet und vernichtet…

Das Kind ward groß. ­ Das Unglück wollt’s: es dichtet.
Nun stehn um mich die Hinzen und die Kunzen
und fühlen zum Bewundern sich verpflichtet ­
und warten: wird der Pegasus nicht brunzen?
Doch was sich dann in stiller Reflexion
herausgequält und aufs Papier ergossen,
das lassen sie in hohlen Schädelfässern
verschmalzen, dann vertrocknen und verwässern ­
und meinen dabei: So wird Kunst genossen. –
Mensch, hüte dich vor jeder Produktion!

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Gedicht: Produktion von Erich Mühsam

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Produktion“ von Erich Mühsam ist eine bitter-ironische Reflexion über das schöpferische Dasein – vom biologischen Anfang bis zum künstlerischen Schaffen. In einer Mischung aus Groteske, Sarkasmus und resigniertem Witz setzt Mühsam sich selbst, die Gesellschaft und vor allem das Verhältnis von Kunstproduktion und Kunstrezeption schonungslos der Lächerlichkeit aus.

Im ersten Teil des Gedichts blickt das lyrische Ich auf seine früheste Kindheit zurück. Die überzeichnete Idylle – Ammen, Tanten, Küsse auf den Popo – mündet in eine drastisch komische Pointe: Die „Produktion“ des Kindes ist schlicht das Windeln-Füllen. Diese Ausscheidung wird pflichtbewusst von der Umwelt beseitigt, ohne weiterem Sinn oder bleibendem Wert beigemessen zu werden. Schon hier wird „Produktion“ ironisch als etwas betrachtet, das mehr Last als Leistung ist – flüchtig, entwertet, entsorgt.

Der zweite Teil führt den Gedankengang fort, indem Mühsam die Parallele zur künstlerischen Tätigkeit zieht. Aus dem Kind wird ein Dichter, doch auch seine „Produktion“ – das Schreiben, das kreative Ringen – wird letztlich entwertet. Zwar stehen nun „Hinzen und Kunzen“ ehrfürchtig um ihn herum, doch ihre Erwartungen bleiben hohl, ihre Rezeption oberflächlich. Der Dichter liefert mühsam seine Werke ab, doch diese landen – wie einst die Windelinhalte – im geistigen Abfluss: Sie werden „verschmalzen, dann vertrocknen und verwässern“.

In seiner Schlusspointe treibt Mühsam die Entwertung des schöpferischen Aktes auf die Spitze: „Mensch, hüte dich vor jeder Produktion!“ Dieser Aufruf ist doppeldeutig. Einerseits erscheint jede Form von Hervorbringen – ob biologisch oder künstlerisch – als vergeblich, weil sie in einem dumpfen, unreflektierten System landet, das nichts versteht und nichts bewahrt. Andererseits ist es eine sarkastische Absage an den Kult um Kreativität, Individualität und Genialität: Was nützt der Drang zum Ausdruck, wenn niemand ihn wirklich versteht?

„Produktion“ ist damit ein bitteres Selbstporträt des Künstlers im Spannungsfeld zwischen innerem Ausdruck und äußerer Wirkungslosigkeit. In seiner komischen Radikalität spiegelt sich Mühsams anarchistisches Denken: ein Angriff auf gesellschaftliche Konventionen, Bildungsdünkel und die Illusion der bürgerlichen Kultur, wahre Kunst erkennen oder würdigen zu können.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.