Mädchen am Kai
Hab keinen Charakter, hab nur Hunger,
Ich, Passagier im Zwischendeck des Lebens,
Geliebt und gehasst hab ich vergebens
Und jeden Abend auf der Lunger.
Und diese Kunst, die geht nach Brot.
Und kann man sterben denn vor Scham?
Ich bin so müde, lendenlahm,
Und dennoch, Zähne gesund, mein Mund ist rot.
Madonna, lass mich fallen in tiefen Schacht.
Nur einmal noch behütet sein.
Lieb mich von allen Sünden rein.
Sieh, ich hab manche Nacht gewacht!
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Mädchen am Kai“ von Emmy Hennings thematisiert das Leben am Rand der Gesellschaft, geprägt von Armut, Scham und der verzweifelten Suche nach Trost. Die Sprecherin beschreibt sich als „Passagier im Zwischendeck des Lebens“ – ein starkes Bild für das Gefühl, im sozialen Abseits zu stehen, zwischen den Klassen, zwischen Existenz und Verlorenheit. Die Zeilen vermitteln ein Gefühl von Resignation und Entfremdung: Liebe und Hass erscheinen als vergebliche Erfahrungen, und das tägliche Überleben, symbolisiert durch „Hunger“ und die „Kunst, die geht nach Brot“, steht im Mittelpunkt.
Besonders auffällig ist die brutale Ehrlichkeit der Selbstdarstellung. Die Sprecherin wirkt müde, ausgebrannt, aber sie bleibt äußerlich noch intakt – „Zähne gesund, mein Mund ist rot“. Diese Diskrepanz zwischen innerem Zerfall und äußerer Funktionstüchtigkeit verweist auf die Rolle der Frau im Milieu von Armut und Ausbeutung, vielleicht auch auf das Leben als Prostituierte. Die Frage „Kann man sterben denn vor Scham?“ drückt die existenzielle Not und die Sehnsucht nach Erlösung aus.
Im letzten Teil des Gedichts richtet sich die Sprecherin flehend an eine „Madonna“ – ein religiöses Bild, das für Schutz und Vergebung steht. In diesem Gebet wird der Wunsch nach Reinheit und Geborgenheit laut, ein letzter verzweifelter Versuch, der moralischen und physischen Erschöpfung zu entkommen: „Nur einmal noch behütet sein.“ Die „Nächte, die sie gewacht hat“, stehen dabei sinnbildlich für ein Leben voller Mühsal und innerer Kämpfe.
Insgesamt ist „Mädchen am Kai“ ein schonungslos ehrliches, von sozialer Härte und spiritueller Sehnsucht geprägtes Gedicht. Es spiegelt Hennings’ eigene Erfahrungen im Milieu und die Zerrissenheit zwischen Überlebenskampf und dem Wunsch nach Erlösung wider. Die Sprache bleibt klar und direkt, durchzogen von einer tiefen Melancholie und einem leisen Hoffen auf Gnade.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.