Mein Liebeslied
Wie ein heimlicher Brunnen
murmelt mein Blut,
immer von dir, immer von mir.
Unter dem taumelnden Mond
tanzen meine nackten, suchenden Träume,
nachtwandelnde Kinder,
leise über düstere Hecken.
O, deine Lippen sind sonnig…
diese Rauschedüfte deiner Lippen…
und aus blauen Dolden silberumringt
lächelst du… du, du.
Immer das schlängelnde Geriesel
auf meiner Haut
über die Schulter hinweg –
ich lausche…
Wie ein heimlicher Brunnen
murmelt mein Blut.
Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Mein Liebeslied“ von Else Lasker-Schüler ist ein zarter, zugleich sinnlicher und traumverlorener Ausdruck tiefer Liebesempfindung. Es entfaltet sich in einem Schwebezustand zwischen Wachsein und Traum, zwischen körperlicher Wahrnehmung und seelischer Sehnsucht. Die wiederkehrende Metapher des „heimlichen Brunnens“, in dem das Blut murmelt, steht dabei für das stille, stetige Pulsieren der Liebe im Innersten des Ichs.
Die Stimmung des Gedichts ist von Nacht und Mondlicht durchdrungen – einem poetischen Raum, in dem Träume Gestalt annehmen. Die „nackten, suchenden Träume“, die „nachtwandelnde Kinder“ genannt werden, verleihen der Sehnsucht etwas Unschuldiges, fast Kindliches, gleichzeitig aber auch etwas Verlorenes und Getriebenes. Sie tanzen „über düstere Hecken“ – eine surreale, beinahe märchenhafte Bildwelt, in der das Unbewusste mit dem Emotionalen verschmilzt.
Im Zentrum steht die geliebte Person, deren Präsenz durch sinnliche Eindrücke beschrieben wird: „deine Lippen sind sonnig“, sie verströmen „Rauschedüfte“, und das Bild der „blauen Dolden silberumringt“ verleiht dem Du eine fast überirdische, lichtumflossene Anmut. Das dreifache „du“ in „du, du, du“ ist Ausdruck einer tiefen inneren Anrufung, eines sich immer wieder auf das geliebte Gegenüber richtenden Gefühlsstroms.
Der Körper spielt in diesem Gedicht eine zentrale Rolle: Das „schlängelnde Geriesel“ über die Haut ist ein zartes, sinnliches Bild, das sowohl die Berührung als auch das Nachhallen der Liebe spürbar macht. Die Bewegung über die Schulter hinweg wirkt fast geisterhaft – eine Erinnerung, ein Hauch, ein flüchtiges Verlangen, das nicht greifbar ist, aber sehr real empfunden wird.
Mit dem letzten Vers kehrt das Gedicht zurück zum Anfang: „Wie ein heimlicher Brunnen / murmelt mein Blut.“ Die Kreisstruktur spiegelt die unendliche Bewegung der Liebe, die – auch wenn sie nicht erfüllt oder greifbar ist – im Innern des Ichs weiterfließt. Else Lasker-Schüler gelingt es, in diesem Gedicht eine fast trancehafte, intime Atmosphäre zu schaffen, in der die Liebe als leises, aber stetiges Lebensgefühl erscheint – tief, geheimnisvoll und unaufhörlich.
Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.
Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.