Gebet
Ich suche allerlanden eine Stadt,
die einen Engel vor der Pforte hat.
Ich trage seinen großen Flügel
gebrochen schwer am Schulterblatt
und in der Stirne seinen Stern als Siegel.
Und wandle immer in die Nacht…
Ich habe Liebe in die Welt gebracht, –
dass blau zu blühen jedes Herz vermag,
und hab ein Leben müde mich gewacht,
in Gott gehüllt den dunklen Atemschlag.
O Gott, schließ um mich deinen Mantel fest;
ich weiß, ich bin im Kugelglas der Rest,
und wenn der letzte Mensch die Welt vergießt,
du mich nicht wieder aus der Allmacht läßt
und sich ein neuer Erdball um mich schließt.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Gebet“ von Else Lasker-Schüler ist von einer tiefen religiösen und existenziellen Sehnsucht geprägt, die nach einer Verbindung zu einem höheren, göttlichen Wesen sucht. Die erste Zeile beschreibt die Suche nach einer „Stadt“, die einen Engel vor der „Pforte“ hat, was ein Bild für ein ideales, himmlisches Ziel darstellt. Der Engel symbolisiert in der religiösen Tradition Schutz, Führung und göttliche Nähe. Doch der Engel ist „gebrochen schwer“ und trägt „seinen Stern als Siegel“ – was auf das Leiden und die Lasten hinweist, die mit der spirituellen Suche oder der Verantwortung für andere verbunden sind. Der Engel wird hier als Symbol für den persönlichen Schmerz und die Opferbereitschaft des lyrischen Ichs dargestellt.
Das lyrische Ich wandelt „immer in die Nacht“, was sowohl eine Metapher für das Suchen in der Dunkelheit als auch für das Fehlen von Klarheit und Orientierung im Leben sein könnte. Die „Liebe“, die es „in die Welt gebracht“ hat, zeigt den Versuch, etwas Positives und Schönes in eine Welt voller Dunkelheit und Ungewissheit zu bringen. Dennoch wird das „Leben“ als „müde“ empfunden, und das „Gott“ umhüllende „dunkle Atemschlag“ verweist auf das Gefühl der inneren Erschöpfung und das Streben nach göttlicher Hilfe in Zeiten des Zweifels und der Verwirrung.
Der Ruf an Gott, „schließ um mich deinen Mantel fest“, verstärkt das Bild der Schutz- und Geborgenheitssehnsucht. Das Bild des „Kugelglases“, in dem das lyrische Ich als „Rest“ gefangen ist, symbolisiert eine Isolation und das Gefühl, in einem begrenzten Raum, von der Welt entfremdet, zu existieren. Das Gedicht spricht von der Endlichkeit des Menschen, von der letzten Vernichtung durch den „letzten Menschen“, und gleichzeitig von der Hoffnung, dass Gott in seiner Allmacht den Sprecher nicht „verlässt“, sondern ihn in seiner endgültigen Transzendenz schützt.
Am Ende des Gedichts schließt sich der Kreis der Existenz, wenn „ein neuer Erdball um mich schließt“, was eine Vorstellung von Wiedergeburt oder Erneuerung sein könnte – ein neuer Anfang nach dem Ende. Die Verbindung zu Gott wird als eine Art ewiger Schutz dargestellt, der den Sprecher sowohl in der physischen als auch in der spirituellen Endlichkeit umhüllt. Das Gedicht lässt den Leser mit der Idee zurück, dass trotz der Vergänglichkeit und des Leids des Lebens der göttliche Schutz eine Gewissheit bietet, die über den physischen Tod hinaus Bestand hat.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.