Ein Lied
Hinter meinen Augen stehen Wasser,
die muss ich alle weinen.
Immer möcht ich auffliegen,
mit den Zugvögeln fort;
bunt atmen mit den Winden
in der großem Luft.
O ich bin traurig…
das Gesicht im Mond weiß es.
Drum ist viel samtne Andacht
und nahender Frühmorgen um mich.
Als an deinen steinernen Herzen
meine Flügel brachen,
fielen die Amseln wie Trauerrosen
hoch von blauen Gebüsch.
Alles verhaltene Gezwitscher
will wieder jubeln,
und ich möchte auffliegen
mit den Zugvögeln fort.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Ein Lied“ von Else Lasker-Schüler entfaltet eine tiefe Traurigkeit und Sehnsucht, die mit dem Wunsch nach Freiheit und einer Rückkehr zu einer natürlichen, unbeschwerten Existenz verbunden sind. Die ersten Zeilen beschreiben die Sprecherin als eine Person, die von einem inneren Sturm beherrscht wird: „Hinter meinen Augen stehen Wasser, die muss ich alle weinen.“ Diese Metapher für die Tränen stellt das Gefühl der Überwältigung und des unaufhörlichen Kummers dar, der in der Sprecherin brodelt. Die Tränen, die sie verbergen muss, symbolisieren den inneren Schmerz, den sie nicht offen zeigen kann.
Der Wunsch, „mit den Zugvögeln fortzufliegen“, wird zu einem zentralen Motiv des Gedichts. Die Zugvögel, die sich von einer Saison zur nächsten bewegen, symbolisieren die Sehnsucht nach Freiheit und die Hoffnung auf einen neuen Anfang. Diese Vorstellung wird verstärkt durch den Wunsch, „bunt zu atmen mit den Winden“ und in der „großen Luft“ zu leben, was die Befreiung von den Enge und den Einschränkungen des Lebens symbolisiert.
Die Traurigkeit wird weiter verstärkt durch die Erwähnung des Mondes, dessen „Gesicht“ das Leid der Sprecherin zu kennen scheint. Der Mond wird hier fast als stiller Zeuge ihrer Gefühle und ihrer inneren Zerrissenheit dargestellt. Die „samtne Andacht“ und der „nahende Frühmorgen“ um die Sprecherin deuten auf eine stille, fast spirituelle Atmosphäre hin, die gleichzeitig Trost und Entfremdung bietet. Es ist, als ob der Frühmorgen, der für Neubeginn und Hoffnung steht, in der Traurigkeit der Sprecherin auf eine sehr zarte und zurückhaltende Weise anwesend ist.
Das Gedicht erreicht seinen dramatischen Höhepunkt in der Passage, in der die Sprecherin beschreibt, wie ihre „Flügel brachen“, als sie an „deinen steinernen Herzen“ zerbrach. Dies deutet auf einen Verlust oder eine Enttäuschung in einer Liebesbeziehung hin, bei der die Sprecherin sich selbst verletzt hat. Die „Amseln“, die wie „Trauerrosen“ fallen, bringen die Verletzlichkeit und die Trauer zum Ausdruck, während das Bild von „blauen Gebüsch“ eine fast malerische, aber traurige Kulisse für diese Szene der Zerstörung und des Schmerzes schafft.
Am Ende des Gedichts kehrt der Wunsch nach Freiheit zurück: „Alles verhaltene Gezwitscher will wieder jubeln,“ was auf den Wunsch nach Heilung und nach einem neuen, freudigen Anfang hinweist. Die Sprecherin möchte erneut „auffliegen mit den Zugvögeln fort“, was den Zyklus der Sehnsucht und der Erneuerung in ihrer emotionalen Reise darstellt. Trotz des Schmerzes und der Trauer bleibt der Wunsch nach Freiheit und Neubeginn das Leitmotiv des Gedichts.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.