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Orpheus mit der Rose

Von

Bist du, mir emporgesandt,
endlich wieder da?
Hundertblättriges Gewand,
ließ dich los des Hermes Hand,
noch zum Greifen nah?

Todesgöttin ernst verhüllt
wie ein Nardenkrug,
Duft, der maßlos höher schwillt,
Balsam, der dem Schoß entquillt:
Ist’s der Qual genug?

Brüste, kennt ihr schon nicht mehr
den, dem es gefiel,
euren Bug, begierdeleer
zu berühren, zart und schwer
wie ein Saitenspiel?

Hüften, Schenkel, Glied um Glied
tiefen Schlafes voll…
Dass der Traum euch niederzieht,
oder wollt ihr, dass mein Lied
euch erwecken soll?

Stille. Wie in Plutos Haus
weder Ja, noch Nein.
Leise schlüpft zurück die Maus,
doch ein Name weht voraus
wie des Morgens Schein.

Sein Gewölbe sphärisch legt
sich um meinen Leib:
Mutter, die mich mystisch hegt,
ungeboren mich, trägt,
heute sagst du: „Bleib!“

In dem Hauch der Rose ruht
wunschlos mein Geschlecht.
Wenn einst der Mänade Wut
mir zerstücket Fleisch und Blut,
ist es Orpheus recht.

Haupt und Leier schwimmen dann
auf dem Samenstrom.
Beides ward ich: Weib und Mann,
Allnatur, erlöst vom Bann,
Wurzel und Arom…

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Orpheus mit der Rose von Elisabeth Langgässer

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Orpheus mit der Rose“ von Elisabeth Langgässer ist eine lyrisch dichte Reflexion über Liebe, Tod und mythologische Wandlung. Es setzt die Gestalt des Orpheus in Beziehung zu einer weiblichen, möglicherweise verstorbenen oder mythologisch überhöhten Figur – der „Rose“ – und entfaltet dabei eine symbolische Reise zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Erotik, Erinnerung und metaphysischer Erkenntnis.

Die ersten Strophen beschreiben eine Rückkehr oder Wiederbegegnung mit einer geliebten Gestalt, die scheinbar aus der Unterwelt zurückgekehrt ist. Dabei klingt der Mythos von Orpheus und Eurydike an: Die „Rose“ wird aus der Hand des Hermes, des Seelenführers, entlassen, bleibt aber gleichzeitig entrückt. Ihre Körperlichkeit wird in poetischen Bildern evoziert – Brüste, Hüften, Glieder –, doch es bleibt unklar, ob sie real oder traumhaft ist. Der Orpheus des Gedichts ringt mit der Unfassbarkeit dieser Gestalt und dem Spannungsfeld zwischen sinnlicher Erinnerung und endgültigem Verlust.

Im Zentrum des Gedichts steht der Versuch, durch das Lied – die künstlerische Schöpfung – Verbindung und vielleicht sogar Erlösung zu finden. Orpheus fragt, ob sein Lied die Schlafende, die Tote, erwecken kann. Doch die Antwort ist Stille – eine symbolische Darstellung der endgültigen Trennung zwischen Leben und Tod. In dieser Stille entsteht eine neue Form von Erkenntnis: Der Sprecher erkennt seine Zugehörigkeit zu einem größeren, mütterlich-mystischen Ganzen. Die Mutterfigur, möglicherweise als Urkraft oder Allnatur gedacht, spricht: „Bleib!“ – ein Zeichen der Annahme, aber auch des Aufgehens im zyklischen Kosmos.

Die letzte Strophe bringt schließlich eine Transformation des lyrischen Ichs zum Ausdruck. Orpheus wird nicht nur zum Künstler, sondern zur Verkörperung des Lebens selbst – als „Weib und Mann“, als „Wurzel und Arom“. Der Tod durch die Mänaden – ein bekanntes Motiv aus der Orpheus-Mythologie – wird nicht als Ende, sondern als letzte Entgrenzung verstanden: Der Körper zersplittert, aber Haupt und Leier, also Geist und Kunst, treiben weiter. Es ist eine mystische Vereinigung mit der Allnatur, ein Einswerden mit dem Ursprünglichen, das über das Individuum hinausreicht.

Langgässers Gedicht verwebt antike Mythen, christlich-mystische Vorstellungen und erotische Symbolik zu einer spirituellen Dichtung, in der der Tod nicht als Bruch, sondern als Übergang in ein allumfassendes Sein erscheint. Die Rose, zentraler Topos der Dichtung, steht dabei sowohl für Liebe, Schönheit als auch für Vergänglichkeit und Erlösung.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.