Frühling 1946
Holde Anemone,
bist du wieder da
und erscheinst mit heller Krone
mir Geschundenem zum Lohne
wie Nausikaa?
Windbewegtes Bücken,
Woge, Schaum und Licht!
Ach, welch sphärisches Entzücken
nahm dem staubgebeugten Rücken
endlich sein Gewicht?
Sah in Gorgos Auge
eisenharten Glanz,
ausgesprühte Lügenlauge
hört ich flüstern, dass sie tauge,
mich zu töten ganz.
Anemone! Küssen
lass mich dein Gesicht:
Ungespiegelt von den Flüssen
Styx und Lethe, ohne Wissen
um das Nein und Nicht.
Aus dem Reich der Kröte
steige ich empor,
unterm Lid noch Plutons Röte
und des Totenführers Flöte
grässlich noch im Ohr.
Ohne zu verführen,
lebst und bist du da,
still mein Herz zu rühren,
ohne es zu schüren –
Kind Nausikaa!
Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Frühling 1946“ von Elisabeth Langgässer reflektiert auf eindrucksvolle Weise die Themen Leid, Wiedergeburt und die Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit. Zu Beginn wird die „Anemone“ – ein Symbol der Frühlingserwachen und der Hoffnung – angesprochen, wobei die Metaphorik von „heller Krone“ und „Lohne“ einen Hauch von Erlösung und Erneuerung vermittelt. Die Assoziation mit Nausikaa, der Tochter des Königs von Scheria aus der Odyssee, verstärkt diese Hoffnung, indem sie eine Figur darstellt, die den Helden Odysseus rettet. Hier scheint die Anemone eine ähnliche Rolle zu spielen.
Die Bildsprache im zweiten Vers beschreibt einen „Windbewegtes Bücken“, eine Metapher für die Erschöpfung und das Leid des lyrischen Ichs, das durch den „staubgebeugten Rücken“ gezeichnet ist. Doch der Frühling, repräsentiert durch die Anemone, scheint eine Befreiung zu versprechen. Das „sphärische Entzücken“ symbolisiert eine göttliche oder überweltliche Erfahrung der Erleichterung und der Wiederbelebung, die dem lyrischen Ich das „Gewicht“ des Lebens von den Schultern nimmt. Diese Wandlung von Leid zu Freude lässt sich als Hoffnung auf Heilung nach den schweren Jahren des Krieges deuten.
Im weiteren Verlauf des Gedichts taucht eine dunkle Wendung auf, die auf die Konfrontation mit der eigenen Dunkelheit und den Erinnerungen an den Tod hinweist. Das Bild von „Gorgos Auge“ und „Lügenlauge“ verknüpft das Gedicht mit der griechischen Mythologie, insbesondere mit der Figur der Medusa. Diese Dunkelheit, die das lyrische Ich zu erdrücken scheint, kontrastiert stark mit der Helligkeit und Reinheit der Anemone und des Frühlings. Das „Mich zu töten ganz“ deutet auf die Zerrissenheit zwischen Leben und Tod, eine Zerreißprobe zwischen den Mächten des Lebens und der Konfrontation mit dem Unausweichlichen.
Die weiteren Bilder, wie „Plutons Röte“ und „des Totenführers Flöte“, verstärken diesen Eindruck von Konfrontation mit dem Tod und der Unterwelt. Doch trotz dieser düsteren Assoziationen bleibt die Anemone ein Symbol der Hoffnung, die „ohne zu verführen“ und „still mein Herz zu rühren“ im Gedicht eine heilende Wirkung hat. Die Anemone bleibt also ein zartes, aber kraftvolles Zeichen für das Leben, das trotz aller Dunkelheit nicht aufgegeben wird.
Insgesamt zeigt Langgässer in diesem Gedicht die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens und die ständige Konfrontation mit Tod und Leid, doch auch die Möglichkeit der Erneuerung und Heilung durch die Natur und durch Symbole wie die Anemone, die das lyrische Ich auf seinem Weg begleiten.
Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.
Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.