Ein Frauenschicksal
So wie der König auf der Jagd ein Glas
ergreift, daraus zu trinken, irgendeines, –
und wie hernach der welcher es besaß
es fortstellt und verwahrt als wär es keines:
so hob vielleicht das Schicksal, durstig auch,
bisweilen Eine an den Mund und trank,
die dann ein kleines Leben, viel zu bang
sie zu zerbrechen, abseits vom Gebrauch
hinstellte in die ängstliche Vitrine,
in welcher seine Kostbarkeiten sind
(oder die Dinge, die für kostbar gelten).
Da stand sie fremd wie eine Fortgeliehne
und wurde einfach alt und wurde blind
und war nicht kostbar und war niemals selten.
Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Ein Frauenschicksal“ von Rainer Maria Rilke thematisiert in einer eindringlichen Metaphorik das Leben einer Frau, das von der Gesellschaft als unbedeutend behandelt und vergessen wird. Der Vergleich mit einem Trinkglas, das von einem König benutzt und dann achtlos beiseite gestellt wird, verdeutlicht die Wegwerfmentalität, der Frauen im historischen Kontext häufig ausgesetzt waren. Das Schicksal, personifiziert als „durstig“, greift die Frau kurzzeitig auf, um sie dann in eine Ecke zu verbannen.
Die „ängstliche Vitrine“, in der die Frau abgestellt wird, steht für eine Welt der Konventionen und gesellschaftlichen Erwartungen, in der die Frau isoliert und ihrem eigentlichen Wesen beraubt wird. Sie wird zu einem Objekt, das nicht mehr benutzt oder geschätzt wird, sondern einfach nur existiert. Die Metapher der „Kostbarkeiten“, die sich in der Vitrine befinden, verstärkt den Kontrast: Während andere Dinge als wertvoll erachtet werden, wird die Frau als „fremd“ und „fortgeliehen“ behandelt. Sie ist nicht Teil des eigentlichen Wertesystems.
Die Zeilen „und wurde einfach alt und wurde blind“ sind von besonderer Tragweite. Das Altwerden ist hier nicht nur ein physischer Prozess, sondern ein Symbol für das Dahinsiechen und die Unfähigkeit, sich aus der erzwungenen Passivität zu befreien. Die Blindheit kann sowohl die wortwörtliche Unfähigkeit des Sehens als auch die metaphorische Blindheit für die eigenen Bedürfnisse und Möglichkeiten darstellen. Der Verlust des Sehvermögens steht hier stellvertretend für den Verlust von Identität und Lebensfreude.
Der letzte Vers, „und war nicht kostbar und war niemals selten“, ist der erschütternde Höhepunkt des Gedichts. Er resümiert das gesamte Schicksal der Frau: Sie wurde von der Gesellschaft nicht als wertvoll oder bemerkenswert angesehen, was ihre Isolation und ihr Leiden unterstreicht. Rilke kritisiert hier die soziale Ungerechtigkeit und die mangelnde Wertschätzung für Frauen, die im historischen Kontext oft auf ihre Rolle als Ehefrau und Mutter reduziert wurden, ohne die Möglichkeit, ihr eigenes Leben zu gestalten oder ihre Individualität zu entfalten. Das Gedicht ist eine eindringliche Mahnung an die Bedeutung von Würde und Wertschätzung für jedes Individuum.
Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.
Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.