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Ein Abschied

Von

›Du willst nun gehn?‹ Weisst du denn nicht, dass ich schon lang
von dir gegangen bin? Dass nur ein Schatten noch,
ein Schein vor deinen Augen steht, den du nur siehst?

Fest glaubt ich mich gewappnet mit dem Panzerhemd
heiter klirrenden Hasses wider eine Welt,
nur wenige Eisenmaschen standen offen noch
von ungefähr – die fandest du und trafst mich gut!

Wie einsam war ich schon – und war′s noch nicht genug!
Jetzt kann ich erst leicht mit vielen spöttisch und freundlich sein,
in Stunden, wo der Ekel überlistet ist –
jetzt tanzen die Götter mir auf der flachen Hand!
Und das dank ich dir und meinem geflickten Eisenwamms.

Du aber wusstest nicht, was du gethan – du stehst
und fragst: ›Du willst nun gehn?‹ – Und bin doch schon so weit! –
O sichre dir in der Brust dein umfühlend Herz –:
Wertvolleres Erbteil spendet uns die Erde nicht.

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Gedicht: Ein Abschied von Otto Erich Hartleben

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Ein Abschied“ von Otto Erich Hartleben thematisiert in subtiler Weise die Auflösung einer Beziehung und die daraus resultierende innere Freiheit des lyrischen Ichs. Der Titel selbst, „Ein Abschied“, ist irreführend, da der Sprecher bereits innerlich Abschied genommen hat, lange bevor die angesprochene Person – vermutlich ein*e frühere*r Geliebte*r – die Frage nach dem Aufbruch stellt. Die ersten Zeilen deuten auf eine emotionale Distanzierung hin, das Zurücklassen eines „Schatten[s]“, einer bloßen Illusion der einstigen Nähe, und die Erkenntnis, dass die Beziehung bereits gescheitert ist.

Der zweite Abschnitt beschreibt, wie das lyrische Ich durch die Beziehung verletzlich wurde. Die Metapher des „Panzerhemdes heiter klirrenden Hasses“ suggeriert eine Abwehrhaltung gegenüber der Welt, die das Ich aufgebaut hatte, um sich zu schützen. Die einstige*r Partner*in fand jedoch eine Schwachstelle, „wenige Eisenmaschen“, und nutzte sie, um das Ich zu treffen und zu verletzen. Dieser Akt, der als „gut“ bezeichnet wird, zeigt eine zynische Anerkennung der zerstörerischen Kraft der Beziehung und der erlittenen Verwundung. Die Verwendung des Wortes „gut“ könnte auch Ironie oder Zynismus implizieren, eine Anerkennung der schmerzhaften Erfahrung als notwendige Entwicklung.

Im dritten Teil offenbart das lyrische Ich eine unerwartete Entwicklung. Die Einsamkeit, die durch die Trennung entstand, ermöglicht nun eine gewisse Distanz und Leichtigkeit. Das Ich kann „mit vielen spöttisch und freundlich sein“, was auf eine neue Freiheit und Unabhängigkeit hindeutet. Die Zeile „jetzt tanzen die Götter mir auf der flachen Hand!“ drückt ein Gefühl der Überlegenheit und Kontrolle aus. Die Beziehung hat dem lyrischen Ich nicht nur Schmerz, sondern auch Stärke und Selbstbewusstsein verliehen, indem es die Fähigkeit erlangt hat, mit dem erlittenen Schmerz fertig zu werden und sich davon zu emanzipieren.

Die letzten Zeilen sind von einer bittersüßen Ironie geprägt. Die*r Ex-Partner*in, die*der sich nach dem „Gehen“ erkundigt, versteht nicht die wahre Natur der Situation, nämlich dass das Ich bereits gegangen ist. Die abschließende Mahnung, das „umfühlend Herz“ zu bewahren, deutet auf einen Wert, den die Erfahrung des Abschieds dem lyrischen Ich bewusst gemacht hat: die Bedeutung der eigenen Gefühle und der Verletzlichkeit. Die letzte Zeile verstärkt die Bedeutung der „Brust“ und des „umfühlenden Herzens“ als das wertvollste Erbe, das die Erde bieten kann – ein Zeichen der gewonnenen Weisheit aus der beendeten Beziehung.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.