Um Mitternacht
Gelassen stieg die Nacht ans Land,
Lehnt träumend an der Berge Wand,
Ihr Auge sieht die goldne Waage nun
Der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn;
Und kecker rauschen die Quellen hervor,
Sie singen der Mutter, der Nacht, ins Ohr
Vom Tage,
Vom heute gewesenen Tage.
Das uralt alte Schlummerlied,
Sie achtet’s nicht, sie ist es müd;
Ihr klingt des Himmels Bläue süßer noch,
Der flüchtgen Stunden gleichgeschwungnes Joch.
Doch immer behalten die Quellen das Wort,
Es singen die Wasser im Schlafe noch fort
Vom Tage,
Vom heute gewesenen Tage.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Um Mitternacht“ von Eduard Mörike ist eine poetisch ruhige, beinahe mystische Betrachtung der Nacht als Gegenbild zum Tag. In wenigen, melodisch komponierten Versen gelingt es Mörike, eine Atmosphäre tiefen Friedens und zeitloser Versenkung zu schaffen. Dabei entfaltet sich ein Zusammenspiel zwischen Natur, Zeit und Bewusstsein, das ganz im Zeichen romantischer Empfindsamkeit steht.
Die Nacht wird als weibliche Gestalt beschrieben, die „gelassen“ an das Land tritt und sich „träumend an der Berge Wand“ lehnt. Diese bildhafte Personifikation gibt der Nacht eine mütterlich-ruhende, beinahe göttliche Präsenz. Die Vorstellung der „goldnen Waage der Zeit“, die nun in perfektem Gleichgewicht ruht, verleiht dem Moment eine feierliche Stille und verweist auf den Nullpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft – die Mitternacht als Schwelle, als zeitlose Mitte.
Gleichzeitig erwacht in der Natur eine Bewegung: Die Quellen „rauschen kecker hervor“, als ob sie der Nacht etwas mitteilen wollen. Sie singen ihr vom „heute gewesenen Tage“. Der Tag, der vergangen ist, hallt noch nach in der Stimme der Natur. Doch die Nacht scheint davon unbeeindruckt: Das „uralte Schlummerlied“ der Quellen, das sie singen, rührt sie nicht mehr – sie ist des Tages müde und richtet ihren Blick auf das Ewige, die „Bläue des Himmels“, die außerhalb der Zeit steht.
Mörike stellt damit eine poetische Gegenüberstellung von Tagesrastlosigkeit und nächtlicher Transzendenz her. Während die Quellen, Sinnbild für das rastlose Bewusstsein, auch im Schlaf weiter „reden“, hat sich die Nacht schon von der Welt gelöst. Sie sucht keine Ablenkung mehr, sondern verweilt in einer überzeitlichen Betrachtung.
„Um Mitternacht“ ist so ein leises, meditatives Gedicht über das Vergehen der Zeit, die Sehnsucht nach Ruhe und das Loslassen des Tages. Es bewegt sich zwischen irdischer Naturbeobachtung und spiritueller Symbolik – typisch für Mörikes feinsinnige Verbindung von Romantik und klassischer Form.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.