Logo der Website, Schriftzug "Poesie Oase" mit Palmen umrandet.
, , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,

Besuch in Urach

Von

Nur fast so wie im Traum ist mir’s geschehen,
Daß ich in dies geliebte Tal verirrt.
Kein Wunder ist, was meine Augen sehen,
Doch schwankt der Boden, Luft und Staude schwirrt,
Aus tausend grünen Spiegeln scheint zu gehen
Vergangne Zeit, die lächelnd mich verwirrt;
Die Wahrheit selber wird hier zum Gedichte,
Mein eigen Bild ein fremd und hold Gesichte!

Da seid ihr alle wieder aufgerichtet,
Besonnte Felsen, alte Wolkenstühle!
Auf Wäldern schwer, wo kaum der Mittag lichtet
Und Schatten mischt mit balsamreicher Schwüle.
Kennt ihr mich noch, der sonst hieher geflüchtet,
Im Moose, bei süß-schläferndem Gefühle,
Der Mücke Sumsen hier ein Ohr geliehen,
Ach, kennt ihr mich, und wollt nicht vor mir fliehen?

Hier wird ein Strauch, ein jeder Halm zur Schlinge,
Die mich in liebliche Betrachtung fängt;
Kein Mäuerchen, kein Holz ist so geringe,
Daß nicht mein Blick voll Wehmut an ihm hängt:
Ein jedes spricht mir halbvergeßne Dinge;
Ich fühle, wie von Schmerz und Lust gedrängt
Die Träne stockt, indes ich ohne Weile,
Unschlüssig, satt und durstig, weitereile.

Hinweg! und leite mich, du Schar von Quellen,
Die ihr durchspielt der Matten grünes Gold!
Zeigt mir die urbemoosten Wasserzellen,
Aus denen euer ewigs Leben rollt,
Im kühnsten Walde die verwachsnen Schwellen,
Wo eurer Mutter Kraft im Berge grollt,
Bis sie im breiten Schwung an Felsenwänden
Herabstürzt, euch im Tale zu versenden.

O hier ist’s, wo Natur den Schleier reißt!
Sie bricht einmal ihr übermenschlich Schweigen;
Laut mit sich selber redend will ihr Geist,
Sich selbst vernehmend, sich ihm selber zeigen.
– Doch ach, sie bleibt, mehr als der Mensch, verwaist,
Darf nicht aus ihrem eignen Rätsel steigen!
Dir biet ich denn, begier’ge Wassersäule,
Die nackte Brust, ach, ob sie dir sich teile!

Vergebens! und dein kühles Element
Tropft an mir ab, im Grase zu versinken.
Was ist’s, das deine Seele von mir trennt?
Sie flieht, und möcht ich auch in dir ertrinken!
Dich kränkt’s nicht, wie mein Herz um dich entbrennt,
Küssest im Sturz nur diese schroffen Zinken;
Du bleibest, was du warst seit Tag und Jahren,
Ohn ein’gen Schmerz der Zeiten zu erfahren.

Hinweg aus diesem üppgen Schattengrund
Voll großer Pracht, die drückend mich erschüttert!
Bald grüßt beruhigt mein verstummter Mund
Den schlichten Winkel, wo sonst halb verwittert
Die kleine Bank und wo das Hüttchen stund;
Erinnrung reicht mit Lächeln die verbittert
Bis zur Betäubung süßen Zauberschalen;
So trink ich gierig die entzückten Qualen.

Hier schlang sich tausendmal ein junger Arm
Um meinen Hals mit inn’gem Wohlgefallen.
O säh ich mich, als Knaben sonder Harm,
Wie einst, mit Necken durch die Haine wallen!
Ihr Hügel, von der alten Sonne warm,
Erscheint mir denn auf keinem von euch allen
Mein Ebenbild, in jugendlicher Frische
Hervorgesprungen aus dem Waldgebüsche?

O komm, enthülle dich! dann sollst du mir
Mit Freundlichkeit ins dunkle Auge schauen!
Noch immer, guter Knabe, gleich ich dir,
Uns beiden wird nicht voreinander grauen!
So komm und laß mich unaufhaltsam hier
Mich deinem reinen Busen anvertrauen! –
Umsonst, daß ich die Arme nach dir strecke,
Den Boden, wo du gingst, mit Küssen decke!

Hier will ich denn laut schluchzend liegen bleiben,
Fühllos, und alles habe seinen Lauf! –
Mein Finger, matt, ins Gras beginnt zu schreiben:
Hin ist die Lust! hab alles seinen Lauf!
Da, plötzlich, hör ich’s durch die Lüfte treiben,
Und ein entfernter Donner schreckt mich auf;
Elastisch angespannt mein ganzes Wesen
Ist von Gewitterluft wie neu genesen.

Sieh! wie die Wolken finstre Ballen schließen
Um den ehrwürdgen Trotz der Burgruine!
Von weitem schon hört man den alten Riesen,
Stumm harrt das Tal mit ungewisser Miene,
Der Kuckuck nur ruft sein einförmig Grüßen
Versteckt aus unerforschter Wildnis Grüne –
Jetzt kracht die Wölbung, und verhallet lange,
Das wundervolle Schauspiel ist im Gange!

Ja nun, indes mit hoher Feuerhelle
Der Blitz die Stirn und Wange mir verklärt,
Ruf ich den lauten Segen in die grelle
Musik des Donners, die mein Wort bewährt:
O Tal! du meines Lebens andre Schwelle!
Du meiner tiefsten Kräfte stiller Herd!
Du meiner Liebe Wundernest! ich scheide,
Leb wohl! – und sei dein Engel mein Geleite!

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Besuch in Urach von Eduard Mörike

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Besuch in Urach“ von Eduard Mörike ist eine eindrucksvolle lyrische Rückschau auf einen Ort der Kindheit oder Jugend, der beim Wiedersehen intensive, teils überwältigende Emotionen auslöst. Der Sprecher betritt das ihm vertraute Tal fast wie in einem Traum und empfindet die Natur nicht nur als äußere Landschaft, sondern als Spiegel innerer Zustände. Der Eindruck von Realität verschwimmt, die „Wahrheit selber wird hier zum Gedichte“ – was auf eine poetische Überhöhung und subjektive Überwältigung durch Erinnerung und Gefühl hinweist.

Die Natur erscheint nicht bloß als Kulisse, sondern als lebendige Kraft, die mit dem Sprecher in Beziehung tritt. Felsen, Wälder, Moose – alles scheint ihn wiederzuerkennen oder ruft Erinnerungen wach. Die Idylle wirkt jedoch nicht nur tröstlich, sondern auch schmerzlich, denn der Versuch, die vergangene Jugendzeit wiederzufinden oder mit ihr zu verschmelzen, scheitert. Die Natur, so schön und lebendig sie ist, bleibt letztlich unberührt von menschlichen Gefühlen. Diese Entfremdung kulminiert im Bild des Wassers, das trotz aller Sehnsucht des lyrischen Ichs keine Verbindung zulässt: „Vergebens! und dein kühles Element / Tropft an mir ab“.

Mörike arbeitet hier mit starken Kontrasten: zwischen Bewegung und Erstarrung, Vergangenheit und Gegenwart, Nähe und Unerreichbarkeit. Besonders das Gewitter in den letzten Strophen wirkt wie eine Katharsis. Die aufgeladene Natur spiegelt die emotionale Erregung des Sprechers, verwandelt das Tal in eine Bühne, auf der sich ein „wundervolles Schauspiel“ entfaltet. Der Blitz, der die Stirn des Sprechers erhellt, wirkt fast wie ein Erweckungserlebnis, ein Moment der Selbsterkenntnis und des Abschieds.

Am Ende steht ein feierlicher, beinahe religiöser Abschied: Das Tal wird zur „Schwelle“ eines neuen Lebensabschnitts, zur „Wundernest“ der Liebe, die nun zurückgelassen werden muss. Die emotionale Intensität des Gedichts liegt nicht nur in der beschriebenen Landschaft, sondern vor allem in der Verflechtung von Erinnerung, Naturerlebnis und existenzieller Selbsterfahrung. Mörike gelingt es, das Tal von Urach zu einem Ort innerer Wandlung zu machen – erfüllt von Schmerz, Schönheit und einer tief empfundenen Sehnsucht nach dem Verlorenen.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.