Logo der Website, Schriftzug "Poesie Oase" mit Palmen umrandet.
, , , , , , , , , , , , , , , , , ,

Dunkle Betrachtung

Von

Wer weiß es, ob nicht doch Aegypten
In seinen kühlen Felsenkrypten,
Im Bauch granitner Pyramiden
Ersann den besten Grabesfrieden?
Wer weiß wie schwer die Theile tragen
An der Verwesung leisem Nagen
Zu der im Sarg wir sie verdammen?
Ob ihre trägen finstern Flammen
Wann sie zerstörend Neues brüten
In jedem nicht wie Zahnschmerz wüthen?
So dankt vielleicht dem Leichenarzte,
Der ihr den Weg in′s Fleisch verharzte,
Das für Jahrtausende dem Strom
Der Noth entrissene Atom.

Dann ist es frei von Trieb und Pflicht,
Taub für den Ton, blind für das Licht;
Sein Amt ist nur des Steines Thun
Und ohne Werden darf es ruhn.
Dann spürt es nicht des Hungers Gier
Noch jenen eiteln Drang nach Zier
Der eifrig selbst im Grashalm waltet,
Die Blume schminkt und schön gestaltet.

Was, wann ein Sturm die Welt durchjagt,
In seinem Brausen ächzt und klagt,
Es ist vielleicht ein stolzer Gram,
Ein Laut des Zornes und der Schaam
Nach höchstem irdischem Berufe
Zu fröhnen auf der tiefsten Stufe.

Was jetzt verdammt ist mit Gestöhn
Von Süden her als heißer Föhn
Vom Alpenhaupt den Schnee zu schmelzen,
Lawinen in das Thal zu wälzen,
Mit Schlamm und Fluth in wilden Bächen
Das Werk der Menschenhand zu brechen,
Zu rütteln an der Dome Thürmen
Und stolze Kuppeln einzustürmen:
Enthält vielleicht, gelöst in Dunst,
Das Herz und Hirn voll Götterkunst
Die rohen Stein im ewgen Rom
Emporkrystallt zum Petersdom.

Was jetzt die plumpe Mißgestalt
Des Stachelcactus treibend ballt,
Nahm einen Theil vielleicht gefangen
Von dem, was grausig schön die Schlangen
Um den Laokoon geschnürt,
Wohl gar am Meißel mitgeführt
Durch den Homer im Stoff geschah
Als Zeusbild von Olympia.

Da man von Sand und Asche schmolz
Den Glasschmuck, den setzt frechheitsstolz,
Entweibt und jedem Bieter feil,
Um ihren Hals dies Gegentheil
Der heiligen Madonna legt
Wann sie sich selbst zu Markte trägt –:
Wo ist auf dieser Wechselbühne
Der Staubgestalten wohl der Kühne
Der sich der Bürgschaft unterzieht
Daß da nicht mit hineingerieth
Zum Stoff des unächten Juwels
Ein Theil vom Auge Rafaels?

Ja, wann, examenweisheitstrotzend,
Aus goldgefaßter Brille glotzend,
Der strenge Herr Geheimerath
Ermittelt, ob auf seinen Draht
Gezogen sei mit Haut und Haar
Der bebende Referendar;
Ob auch kein eigener Gedanke
Doch irgendwo sein Hirn durchranke;
Ob sein Gedächtniß, vorschriftsmäßig
In allen Stücken, recht gefräßig
Verschlungen jeden Paragraphen
Der höchsten Kunst: ein Volk im Schlafen
Und ohne böser Träume Drücken
Dem Reglement nach zu beglücken –:
Zwar liegt es fern und wäre gräßlich,
Doch wer beweist mir ganz verläßlich
Daß nicht in seinem Schädelbein
Durchzuckt von grauenvoller Pein
Ein Stäubchen ächzt vor Höllenzwang
Vom Hirn aus dem der Hamlet sprang?

Ja, das erst ist der höchste Schrecken
In schlechter Menschenhaut zu stecken.

Mir hat bisher mein Erdenwallen
Im Ganzen viel zu wohl gefallen
Um einmal noch dieselbe Fahrt
Zu wiederholen andersart.

Als Leopard im Rohr zu liegen,
Als Kauz auf Mäusejagd zu fliegen,
Als Woge Felsen zu umbranden,
Ertränkte Leichen spät zu landen;
Vor Wuth zu stöhnen im Orkane,
Ja, selbst mit giftgefülltem Zahne
Die Beute tückisch zu erlisten,
Ein Schlangendasein so zu fristen –:
Verdammniß wär′s, und nichts als Stein sein
Muß Glück, verglichen solcher Pein, sein;
Doch Alles das ertrüg′ ich lieber
Als über Glück vor Wuth zu beben,
Und mit des Neides Höllenfieber
Behaftet als ein Mensch zu leben.

So wünscht′ ich, daß im Erdenschooß
Mein Staub Aeonen werdelos
Vom Wirbelsturm des Wollens raste
Nachdem dem dankbar satten Gaste
Das Mahl des Daseins wohl geschmeckt.
Doch hättest du kein Selbstvergessen,
Natur, und müßt′ er neu geweckt
Rastlos dies Labyrinth durchmessen –:
So laß ihn ringen, laß ihn dulden,
So laß ihn zahlen seine Schulden
Für Lebensfreude mit Beschwerden.
So laß ihn alles, alles werden,
Nur keinen Nipsenpoetaster
Dem wie ein Spanischfliegenpflaster
Der Andern Kunst im Nacken brennt
Dieweil er selber impotent.
Ja, lieber Alles leiden müssen
Als neiden müssen.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Dunkle Betrachtung von Wilhelm Jordan

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Dunkle Betrachtung“ von Wilhelm Jordan ist eine tiefgründige Reflexion über das Leben, den Tod, die Vergänglichkeit und die Frage nach dem Sinn des Daseins. Es ist ein komplexes Werk, das reich an Bildern und Anspielungen ist und eine melancholische Grundstimmung aufweist, die durch die stetige Konfrontation mit der Endlichkeit und dem möglichen „Nachleben“ der Elemente entsteht.

Jordan beginnt mit der Betrachtung des Todes und der Unsterblichkeit, indem er die Frage nach dem ewigen Frieden in ägyptischen Grabstätten aufwirft. Er stellt das Zerfallen des Körpers in Frage und ob die Seele nach dem Tod durch das „Zerstörende Neues“ leidet, bevor er die Hoffnung auf ein friedliches und unberührtes Dasein in der Steinwerdung des Körpers formuliert. Die Vorstellung, im Tod in der Materie aufgehen, frei von Leidenschaften und Wünschen, ist das Kernmotiv, das sich durch das gesamte Gedicht zieht. Die Welt des Lebens wird dabei als Quelle von Leid und Unglück dargestellt, während die Welt der leblosen Materie als ein möglicher Ort der Ruhe und des Friedens erscheint. Dies wird durch Beispiele von Naturphänomenen und Kunstwerken veranschaulicht.

Im weiteren Verlauf des Gedichts wandert Jordans Betrachtung von der Welt des Todes und der Materialität in die Welt der Kunst und der menschlichen Errungenschaften. Er stellt Fragen nach der Unsterblichkeit von Kunstwerken und den Schicksalen derer, die sie erschaffen haben. Die Verse über den Geheimen Rat, der die Vorschriften des Reglements als einziges Maß des Denkens und der Kreativität sieht, sind eine beißende Kritik an der Engstirnigkeit und dem fehlenden Eigenständigkeit des bürgerlichen Lebens. Hier wird die Vergänglichkeit des menschlichen Geistes und der Kunst thematisiert, die in der Betrachtung der „Staubgestalten“ mit der Frage nach der Qualität der menschlichen Existenz und der Möglichkeit einer höheren Bedeutung im Leben verknüpft wird.

Der Höhepunkt des Gedichts ist der Ausdruck des Wunsches des lyrischen Ichs, nach dem Tod in der Materie aufzugehen und der ewigen Ruhe der Leere zu finden, anstatt in der Welt des Lebens und des Neides gefangen zu sein. Die abschließenden Verse sind ein Plädoyer für ein Leben ohne Neid und Missgunst, selbst wenn es mit Leid verbunden ist. Die Zeilen des Gedichts enden mit einer Ablehnung der „Nipsenpoetaster“, der schlechten Nachahmer, welche die Kunst anderer benutzen, um sich selbst zu profilieren. Das Gedicht ist somit eine Kritik an der Oberflächlichkeit und dem falschen Ehrgeiz der Welt und ein Bekenntnis zu einem Leben, das frei von Neid und Missgunst ist. Es ist ein leidenschaftlicher Aufruf zur Selbstverwirklichung und zur Akzeptanz des Lebens mit all seinen Freuden und Leiden, auch wenn es bedeutet, die Welt im Tod zu verlassen.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.