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Die Schwestern

Von

Sieh, wie sie dieselben Möglichkeiten
anders an sich tragen und verstehn,
so als sähe man verschiedne Zeiten
durch zwei gleiche Zimmer gehn.

Jede meint die andere zu stützen,
während sie doch müde an ihr ruht;
und sie können nicht einander nützen,
denn sie legen Blut auf Blut,

wenn sie sich wie früher sanft berühren
und versuchen, die Allee entlang
sich geführt zu fühlen und zu führen:
Ach, sie haben nicht denselben Gang.

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Gedicht: Die Schwestern von Rainer Maria Rilke

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die Schwestern“ von Rainer Maria Rilke ist eine stille Beobachtung der Beziehung zweier Frauen, vermutlich Schwestern, und der subtilen, doch unüberbrückbaren Kluft, die zwischen ihnen besteht. Der Titel deutet auf eine enge familiäre Bindung hin, doch die Verse enthüllen eine tiefere Komplexität und ein Gefühl der Entfremdung. Das Gedicht beginnt mit einem Vergleich, der die unterschiedliche Wahrnehmung der Schwestern von scheinbar gleichen Erfahrungen betont, indem es sie vergleicht mit „verschiednen Zeiten / durch zwei gleiche Zimmer gehn.“ Dies impliziert, dass sie die Welt auf unterschiedliche Weise sehen und dass ihre inneren Welten voneinander getrennt sind, obwohl sie äußerlich verbunden sind.

Im zweiten Abschnitt wird die Dynamik ihrer Beziehung genauer untersucht. Die Schwestern versuchen, sich gegenseitig zu unterstützen und zu schützen, aber diese Bemühungen sind durch ein Gefühl der Erschöpfung und Abhängigkeit getrübt: „Jede meint die andere zu stützen, / während sie doch müde an ihr ruht.“ Diese Zeilen deuten auf eine gegenseitige Belastung hin, die möglicherweise durch unausgesprochene Konflikte oder unerfüllte Bedürfnisse verstärkt wird. Die Metapher des „Blut[s] auf Blut“ im folgenden Vers verstärkt das Gefühl der Erschöpfung und des Unglücks, möglicherweise symbolisierend emotionale Verletzungen oder eine gegenseitige Abhängigkeit, die zu einem Teufelskreis geworden ist.

Die letzte Strophe wirft einen melancholischen Blick auf ihre Versuche, ihre Bindung zu erneuern. Sie suchen Trost in der Erinnerung an frühere Momente der Nähe, indem sie sich „wie früher sanft berühren“ und versuchen, die „Allee entlang / sich geführt zu fühlen und zu führen.“ Diese Zeilen evozieren ein Bild von Sehnsucht und dem Wunsch nach Harmonie, aber das Fazit des Gedichts – „Ach, sie haben nicht denselben Gang“ – deutet darauf hin, dass diese Sehnsucht unerfüllt bleibt.

Rilkes Gedicht ist eine Meditation über die Komplexität menschlicher Beziehungen, insbesondere der zwischen Schwestern, und die Unmöglichkeit, vollständige Einheit zu erreichen, selbst dort, wo tiefe emotionale Bindungen bestehen. Das Gedicht spricht von Missverständnissen, wechselseitiger Abhängigkeit und der Tragik des geteilten Raumes, der jedoch durch individuelle Erfahrungen gefüllt ist, die zu einem unterschiedlichen Gang führen. Es ist ein eindringliches Zeugnis der subtilen Nuancen und Herausforderungen, die in zwischenmenschlichen Beziehungen liegen.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.