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Die Rosenschale

Von

Zornige sahst du flackern, sahst zwei Knaben
Zu einem Etwas sich zusammenballen,
das Haß war und sich auf der Erde wälzte
wie ein von Bienen überfallnes Tier;
Schauspieler, aufgetürmte Übertreiber,
rasende Pferde, die zusammenbrachen,
den Blick wegwerfend, bläkend das Gebiß
als schälte sich der Schädel aus dem Maule.
Nun aber weißt du, wie sich das vergißt:
Denn vor dir steht die volle Rosenschale,
die unvergeßlich ist und angefüllt
mit jenem Äußersten von Sein und Neigen,
Hinhalten, Niemals-Gebenkönnen, Dastehn,
das unser sein mag: Äußerstes auch uns.

Lautloses Leben, Aufgehn ohne Ende,
Raum-brauchen ohne Raum von jenem Raum
zu nehmen, den die Dinge rings verringern,
fast nicht Umrissen-sein wie Ausgespartes
und lauter Inneres, viel seltsam Zartes
und Sich-bescheinendes – bis an den Rand:
ist irgend etwas uns bekannt wie dies?

Und dann wie dies: daß ein Gefühl entsteht,
weil Blütenblätter Blütenblätter rühren?
Und dies: daß eins sich aufschlägt wie ein Lid,
und drunter liegen lauter Augenlider,
geschlossene, als ob sie, zehnfach schlafend,
zu dämpfen hätten eines Innern Sehkraft.
Und dies vor allem: daß durch diese Blätter
das Licht hindurch muß. Aus den tausend Himmeln
filtern sie langsam jenen Tropfen Dunkel,
in dessen Feuerschein das wirre Bündel
der Staubgefäße sich erregt und aufbäumt.

Und die Bewegung in den Rosen, sieh:
Gebärden von so kleinem Ausschlagswinkel,
daß sie unsichtbar blieben, liefen ihre
Strahlen nicht auseinander in das Weltall.

Sieh jene weiße, die sich selig aufschlug
und dasteht in den großen offnen Blättern
wie eine Venus aufrecht in der Muschel;
und die errötende, die wie verwirrt
nach einer kühlen sich hinüberwendet,
und wie die kühle fühllos sich zurückzieht,
und wie die kalte steht, in sich gehüllt,
unter den offenen die alles abtun.
Und was sie abtun, wie das leicht und schwer,
wie es ein Mantel, eine Last, ein Flügel
und eine Maske sein kann, je nach dem,.
und wie sies abtun: wie vor dem Geliebten.

Was können sie nicht sein: war jene gelbe,
die hohl und offen daliegt, nicht die Schale
von einer Frucht, darin dasselbe Gelb,
gesammelter, orangeröter, Saft war?
Und was für diese schon zu viel, das Aufgehn,
weil an der Luft ihr namenloses Rosa
den bittern Nachgeschmack des Lila annahm?
Und die batistene, ist sie kein Kleid,
in dem noch zart und atemwarm das Hemd steckt,
mit dem zugleich es abgeworfen wurde
im Morgenschatten an dem alten Waldbad?
Und diese hier, opalnes Porzellan,
zerbrechlich, eine flache Chinatasse
und angefüllt mit kleinen hellen Faltern, –
und jene da, die nichts enthält als sich.

Und sind nicht alle so, nur sich enthaltend,
wenn Sich-enthalten heißt: die Welt da draußen
und Wind und Regen und Geduld des Frühlings
und Schuld und Unruh und vermummtes Schicksal
und Dunkelheit der abendlichen Erde
bis auf der Wolken Wandel, Flucht und Anflug,
bis auf den vagen Einfluß ferner Sterne
in eine Hand voll Innres zu verwandeln.

Nun liegt es sorglos in den offnen Rosen.

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Gedicht: Die Rosenschale von Rainer Maria Rilke

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die Rosenschale“ von Rainer Maria Rilke ist eine tiefgründige Reflexion über Schönheit, Vergänglichkeit und die transformative Kraft der Wahrnehmung. Es beginnt mit einer Kontrastierung von zerstörerischer Wut und der sanften Präsenz einer Rosenschale, die als Metapher für die Möglichkeit der Kontemplation und der inneren Einkehr dient. Die erste Strophe beschreibt die Heftigkeit von Hass, der sich in gewalttätigen Bildern manifestiert, bevor die Aufmerksamkeit auf die Rosenschale gelenkt wird, die im Gegensatz dazu Unvergänglichkeit und das „Äußerste von Sein“ verkörpert.

Die folgenden Strophen erforschen detailliert die Natur der Rose, wobei Rilke ihre verschiedenen Aspekte durch vielfältige Vergleiche und Bilder beleuchtet. Die Rose wird als Inbegriff des Lebens, des Aufgehens und des inneren Seins dargestellt. Sie nimmt Raum ein, ohne den umgebenden Raum zu beeinträchtigen, und verkörpert eine innere Zartheit und Selbstbestätigung. Rilke beobachtet die Rose in all ihren Facetten, vom Öffnen der Knospen bis zu den zarten Bewegungen der Blütenblätter, die das Licht filtern und eine Welt von Farben und Empfindungen erzeugen. Dabei vergleicht er die Blüten mit Augenlidern, Kleidern, Masken und sogar Porzellan, um ihre unterschiedlichen Erscheinungsformen zu veranschaulichen.

In den weiteren Strophen wird die Rose als Spiegelbild des Lebens und der Welt selbst interpretiert. Sie wird mit einer Venus in einer Muschel verglichen und zeigt die verschiedenen Stadien der Entfaltung und des Rückzugs. Rilke beobachtet die Farben und Formen, von der weißen Rose, die sich öffnet, bis zur errötenden, die sich zurückzieht, und zur kalten, die sich in sich selbst hüllt. Er deutet an, dass die Rose eine Vielzahl von Bedeutungen annehmen kann, je nach ihrer Erscheinung und dem Kontext, in dem sie betrachtet wird. Sie kann leicht wie ein Mantel, schwer wie eine Last, beflügelnd wie ein Flügel oder verbergend wie eine Maske sein. Die Rose wird zum Symbol für die Fähigkeit, die Welt in sich aufzunehmen und in eine Essenz des Inneren zu verwandeln.

Das Gedicht gipfelt in der Erkenntnis, dass die Rose letztendlich eine „Sich-enthaltende“ ist, die die Welt in sich birgt. Sie ist ein Gefäß, das Wind, Regen, Geduld, Schuld, Unruhe und das Schicksal umfasst, alles verwandelt in ein „Hand voll Innres“. Am Ende liegt die Rosenschale sorglos und friedlich in den offenen Rosen, ein Bild der Ruhe und des Einklangs. Rilkes Gedicht feiert somit die Schönheit und Komplexität der Natur und die Fähigkeit des Menschen, durch die Beobachtung und Kontemplation der Welt eine tiefere spirituelle Erfahrung zu machen.

Die Bedeutung des Gedichts liegt in der transformativen Kraft der Wahrnehmung und der Fähigkeit, die Welt in ihrem Äußeren zu betrachten, um das Innere zu verstehen und zu schätzen. Die Rosenschale wird zu einem Symbol für die Möglichkeit, Frieden und Schönheit inmitten von Chaos und Vergänglichkeit zu finden. Durch die detaillierte Beschreibung der Rose und ihrer Metamorphosen lädt Rilke den Leser ein, die Welt mit neuen Augen zu sehen und die Geheimnisse des Lebens in ihrer Fülle zu erfahren.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.