Die Liebende (1)
Das ist mein Fenster. Eben
bin ich so sanft erwacht.
Ich dachte, ich würde schweben.
Bis wohin reicht mein Leben,
und wo beginnt die Nacht?
Ich könnte meinen, alles
wäre noch Ich ringsum;
durchsichtig wie eines Kristalles
Tiefe, verdunkelt, stumm.
Ich könnte auch noch die Sterne
fassen in mir; so groß
scheint mir mein Herz; so gerne
ließ es ihn wieder los
den ich vielleicht zu lieben,
vielleicht zu halten begann.
Fremd, wie niebeschrieben
sieht mich mein Schicksal an.
Was bin ich unter diese
Unendlichkeit gelegt,
duftend wie eine Wiese,
hin und her bewegt,
rufend zugleich und bange,
daß einer den Ruf vernimmt,
und zum Untergange
in einem Andern bestimmt.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Die Liebende (1)“ von Rainer Maria Rilke ist eine tiefgründige Reflexion über das Erwachen des Bewusstseins, die Frage nach der eigenen Existenz und die Ambivalenz von Liebe und Schicksal. Die lyrische Ich-Figur befindet sich in einem Zustand des Übergangs, zwischen dem Schlaf und dem Wachsein, zwischen dem Gefühl der Allgegenwart und der Konfrontation mit der eigenen Vergänglichkeit. Das Fenster, das im ersten Vers erwähnt wird, fungiert als ein metaphorischer Rahmen, der die Welt und die eigenen Gedanken einfängt.
Die ersten beiden Strophen drücken ein Gefühl der Leichtigkeit und Allumfassendheit aus. Die Ich-Figur erwacht „sanft“ und scheint im ersten Moment zu schweben. Sie fragt nach der Reichweite ihres Lebens und nach dem Beginn der Nacht, wodurch sie sich mit den Grenzen ihrer Existenz auseinandersetzt. Die Welt erscheint ihr transparent und still, wie ein Kristall, was auf eine innere Leere und eine noch unbestimmte Zukunft hinweist. Die Ich-Figur könnte „alles“ in sich vereinen, einschließlich der Sterne, was auf ein Gefühl der Allmacht und der Verbundenheit mit dem Universum hindeutet.
In der dritten Strophe deutet sich bereits die Thematik der Liebe an, oder zumindest die Möglichkeit, eine solche zu empfinden. Das Herz scheint groß genug, um die Sterne zu fassen, aber auch, um „ihn“ wieder loszulassen. Diese Zeilen lassen eine gewisse Unsicherheit und Ambivalenz erkennen. Ist die Liebe bereits geschehen, oder nur angedacht? Wird der Geliebte gehalten oder losgelassen? Das „vielleicht“ unterstreicht die Zögerlichkeit und die Unbestimmtheit der Gefühle. Das Schicksal, im nächsten Vers „fremd, wie niebeschrieben“, scheint die Richtung vorzugeben.
Die letzten beiden Strophen vertiefen die existenzielle Fragestellung. Die Ich-Figur fragt nach ihrem Platz in der Unendlichkeit, in der sie sich wie eine „duftende Wiese“ fühlt – ein Bild der Schönheit und der Verletzlichkeit. Sie wird „hin und her bewegt“ und befindet sich in einem Zustand des Rufens und der Angst. Sie sehnt sich nach jemandem, der ihren Ruf hört, und gleichzeitig scheint sie dazu bestimmt zu sein, „in einem Andern“ unterzugehen. Dieses Ende ist nicht unbedingt negativ zu sehen; es könnte auch eine Verschmelzung oder eine Hingabe in der Liebe darstellen. Rilkes Gedicht ist eine Meditation über das Leben, die Liebe und das Schicksal, die den Leser dazu einlädt, über die eigene Existenz nachzudenken.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.