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Die Insel

Von

Nordsee

I

Die nächste Flut verwischt den Weg im Watt,und
alles wird auf allen Seiten gleich;
die kleine Insel aber draußen hat
die Augen zu; verwirrend kreist der Deich

um ihre Wohner, die in einen Schlaf
geboren werden, drin sie viele Welten
verwechseln, schweigend; denn sie reden selten,
und jeder Satz ist wie ein Epitaph

für etwas Angeschwemmtes, Unbekanntes,
das unerklärt zu ihnen kommt und bleibt.
Und so ist alles was ihr Blick beschreibt

von Kindheit an: nicht auf sie Angewandtes,
zu Großes, Rücksichtsloses, Hergesandtes,
das ihre Einsamkeit noch übertreibt.

II

Als läge er in einem Krater-Kreise
auf einem Mond: ist jeder Hof umdämmt,
und drin die Gärten sind auf gleicher Weise
gekleidet und wie Waisen gleich gekämmt

von jenem Sturm, der sie so rauh erzieht
und tagelang sie bange macht mit Toden.
Dann sitzt man in den Häusern drin und sieht
in schiefen Spiegeln was auf den Kommoden

Seltsames steht. Und einer von den Söhnen
tritt abends vor die Tür und zieht ein Tönen
Aus der Harmonika wie Weinen weich;

so hörte ers in einem fremden Hafen -.
Und draußen formt sich eines von den Schafen
ganz groß, fast drohend auf dem Außendeich.

III

Nah ist nur Innres; alles andre fern.
Und dieses Innere gedrängt und täglich
mit allem überfüllt und ganz unsäglich.
Die Insel ist wie ein zu kleiner Stern
welchen der Raum nicht merkt und stumm zerstört
in seinem unbewußten Furchtbarsein,
so daß er, unerhellt und überhört,
allein

das mit dies alles doch ein Ende nehme
dunkel auf einer selbsterfundnen Bahn
versucht zu gehen, blindlings, nicht im Plan
der Wandelsterne, Sonnen und Systeme.

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Gedicht: Die Insel von Rainer Maria Rilke

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die Insel“ von Rainer Maria Rilke ist eine tiefgründige Reflexion über Isolation, Verlorenheit und die stille Tragik des menschlichen Daseins, verortet in der kargen Landschaft einer Nordseeinsel. Es ist ein Gedicht, das sich durch eine melancholische Grundstimmung auszeichnet, die durch die düstere Bildsprache und die Betonung der Einsamkeit der Inselbewohner verstärkt wird. Rilke nutzt die geografische Isolation der Insel als Metapher für die innere Isolation und die Erfahrung des Einzelnen in einer überwältigenden und oft feindseligen Welt.

Der erste Teil beschreibt die äußere Umgebung der Insel, die von den Gezeiten und der Weite des Meeres geprägt ist. Der Deich schützt die Bewohner, doch gleichzeitig schließt er sie ein, wie ein Kreis, der sie von der Außenwelt trennt. Die Bewohner selbst scheinen in einem Zustand der Trägheit und Verwirrung zu leben, gefangen in einem Kreislauf von Geburt und Schlaf. Ihre Kommunikation ist spärlich, jeder Satz wirkt wie ein Nachruf, der auf etwas Unbekanntes und Angespültes verweist. Die Inselbewohner nehmen die Welt um sich herum als etwas wahr, das ihnen aufgezwungen wird, als etwas Großes und Rücksichtsloses, das ihre Einsamkeit nur noch verstärkt.

Der zweite Teil vertieft sich in das Innenleben der Insel. Die Höfe und Gärten sind gleichförmig und von dem rauen Wind geprägt, der die Bewohner erzieht und ihnen die Angst vor dem Tod einflößt. Die schiefen Spiegel in den Häusern reflektieren die seltsamen Dinge auf den Kommoden, was auf eine verzerrte Wahrnehmung und ein Gefühl der Entfremdung hindeutet. Ein Sohn, der am Abend ein melancholisches Lied auf der Harmonika spielt, das er in einem fernen Hafen gehört hat, symbolisiert die Sehnsucht nach etwas Anderem, die Suche nach Trost und die Erinnerung an eine verlorene Welt. Das drohende Bild eines Schafs auf dem Außendeich unterstreicht die allgegenwärtige Gefahr und die Isolation.

Der dritte Teil kulminiert in der Erkenntnis, dass nur das Innere wirklich nah ist, während alles Äußere fern erscheint. Dieses Innere ist jedoch mit allem überfüllt, was es unsäglich macht. Die Insel wird mit einem zu kleinen Stern verglichen, der vom unbewussten, furchtbaren Raum zerstört wird, ohne bemerkt zu werden. Die Bewohner scheinen blindlings auf einer selbsterfundenen Bahn zu wandeln, ohne Plan und ohne Hoffnung auf Erhellung. Das Gedicht endet mit einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit und der Suche nach einem Ende, nach einem Ausweg aus dieser unaufhaltsamen Zerstörung. Rilkes „Die Insel“ ist somit eine ergreifende Studie über die menschliche Existenz in einer Welt, die von Isolation, Vergänglichkeit und der Suche nach Bedeutung geprägt ist.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.