Die Flamingos
Jardin des plantes, Paris
In Spiegelbildern wie von Fragonard
ist doch von ihrem Weiß und ihrer Röte
nicht mehr gegeben, als dir einer böte,
wenn er von seiner Freundin sagt: sie war
noch sanft von Schlaf. Denn steigen sie ins Grüne
und stehn, auf rosa Stielen leicht gedreht,
beisammen, blühend, wie in einem Beet,
verführen sie verführender als Phryne
sich selber; bis sie ihres Auges Bleiche
hinhalsend bergen in der eignen Weiche,
in welcher Schwarz und Fruchtrot sich versteckt.
Auf einmal kreischt ein Neid durch die Voliere;
sie aber haben sich erstaunt gestreckt
und schreiten einzeln ins Imaginäre.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Die Flamingos“ von Rainer Maria Rilke beschreibt in konzentrierter Form das faszinierende, fast surreale Schauspiel dieser Vögel im Jardin des Plantes in Paris. Das Gedicht beginnt mit einer Gegenüberstellung von äußeren Eindrücken und der Unzulänglichkeit des Wortes, um die Schönheit und Anmut der Flamingos adäquat zu erfassen. Die ersten Verse vergleichen die Spiegelung der Vögel mit den Bildern von Fragonard, einem Rokokomaler, wodurch die kunstvolle Ästhetik und der Eindruck von Vergänglichkeit und Flüchtigkeit betont werden. Die Metapher der „sanft von Schlaf“ bedeckt die subtile Schönheit der Flamingos und deutet auf eine Erfahrung hin, die sich der direkten Beschreibung entzieht.
Im zweiten Teil des Gedichts wird die Bewegung der Flamingos in den Vordergrund gerückt. Ihre „rosa Stiele“ beschreiben ihre Beine, die auf dem grünen Untergrund einen Kontrast bilden und die Vögel wie eine blühende Pflanze erscheinen lassen. Rilke greift hier das Motiv der Verführung auf und vergleicht die Flamingos mit Phryne, einer berühmten Hetäre aus der griechischen Antike. Diese Gegenüberstellung unterstreicht die sinnliche Ausstrahlung und die verführerische Anziehungskraft der Vögel. Die Formulierung „verführen sie verführender als Phryne“ deutet darauf hin, dass die Flamingos sich selbst verführen, was ihre innere Schönheit und Eigenständigkeit hervorhebt.
Die Beschreibung des Farbspiels, das sich in den Flamingos verbirgt, intensiviert das Erlebnis. Das „Schwarz und Fruchtrot“, das sich in ihrem Gefieder versteckt, deutet auf eine komplexe innere Welt hin, die sich der Oberfläche entzieht. Der „Neid“ in der Voliere durchbricht die Idylle und deutet auf die Anfeindung und das Unverständnis, das dem Besonderen entgegengebracht wird. Dieses Element der Störung lässt sich als Kommentar zur menschlichen Erfahrung verstehen, in der Neid und Missgunst oft die Schönheit und das Besondere zerstören.
Das Gedicht endet mit einem überraschenden Moment, in dem die Flamingos auf den Schrei reagieren, sich „erstaunt gestreckt“ haben und „ins Imaginäre“ schreiten. Dieses „Imaginäre“ steht hier für eine Welt der Fantasie, der Kunst und der inneren Freiheit. Die Flamingos verlassen damit die Realität und ziehen sich in eine Sphäre zurück, die sich der direkten Beobachtung entzieht. Dies ist ein starkes Bild für die Fähigkeit des Individuums, sich von äußeren Einflüssen zu lösen und seine eigene, innere Welt zu erschaffen – ein zentrales Thema in Rilkes Werk.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.