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Die Fabel ohne Moral

Von

Wenn ich dich nur hätte, sagte der Mensch zu einem Pferde, das mit Sattel und Gebiß vor ihm stand, und ihn nicht aufsitzen lassen wollte; wenn ich dich nur hätte, wie du zuerst, das unerzogene Kind der Natur, aus den Wäldern kamst! Ich wollte dich schon führen, leicht, wie ein Vogel, dahin, über Berg und Tal, wie es mich gut dünkte; und dir und mir sollte dabei wohl sein. Aber da haben sie dir Künste gelehrt, Künste, von welchen ich, nackt, wie ich vor dir stehe, nichts weiß; und ich müßte zu dir in die Reitbahn hinein (wovor mich doch Gott bewahre) wenn wir uns verständigen wollten.

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Gedicht: Die Fabel ohne Moral von Heinrich von Kleist

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die Fabel ohne Moral“ von Heinrich von Kleist entfaltet eine melancholische Betrachtung über die Entfremdung von Mensch und Natur sowie über die Folgen von Zivilisation und Erziehung. Es beginnt mit dem Wunsch eines Menschen nach einer ungebändigten, natürlichen Verbindung zu einem Pferd, das er gerne nutzen möchte. Der Mensch sehnt sich nach der Einfachheit der ursprünglichen Beziehung, als das Pferd noch wild und ungezähmt war.

Die zentrale Aussage des Gedichts liegt in der Gegenüberstellung von Natur und Zivilisation. Der Mensch bedauert, dass das Pferd durch „Künste gelehrt“ wurde. Diese Künste, die das Pferd dressiert und ihm Fähigkeiten vermittelt haben, sind gleichzeitig ein Hindernis für die ursprüngliche Harmonie und das Vertrauen, das der Mensch sich wünscht. Die „Künste“ stehen hier für die erlernten Regeln, Konventionen und Einschränkungen der Zivilisation, die das natürliche Verhalten des Pferdes und die Beziehung des Menschen zu ihm verändert haben. Der Mensch fühlt sich durch diese Künste unfähig, eine natürliche Verbindung zu dem Tier aufzubauen.

Die Ironie des Gedichts liegt darin, dass es keine Moral im herkömmlichen Sinne bietet. Es erhebt keinen moralischen Zeigefinger, sondern beschreibt eine Beobachtung. Die „Fabel ohne Moral“ verdeutlicht die Einsicht, dass die Entwicklung des Pferdes zwar seine Fähigkeiten erweitert hat, aber gleichzeitig eine Kluft zwischen Mensch und Tier geschaffen hat. Der Mensch fühlt sich nackt und hilflos angesichts der erlernten Künste und kann sich dem Pferd nicht mehr auf eine ursprüngliche, vertraute Weise nähern. Die Reitbahn, die hier als Symbol für die durch Künste erzwungene Dressur steht, wird vom Menschen abgelehnt.

Kleists Gedicht ist eine subtile Kritik an der Zivilisation und ihren Auswirkungen auf die ursprüngliche Natur. Es regt dazu an, über die Folgen von Erziehung und gesellschaftlichen Konventionen nachzudenken. Das Fehlen einer expliziten Moral macht das Gedicht offen für Interpretationen und lässt den Leser die Frage nach dem Verlust der Natürlichkeit und dem Preis des Fortschritts selbst beantworten. Die Trauer des Menschen über das verlorene Ideal einer ungebändigten Verbindung wird zum Spiegelbild einer allgemeinen Erfahrung von Entfremdung.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.